Foto: Szene aus „Amerika“ von Gerhard Meister im Kulturforum Fürth. © Thomas Langer
Text:Martin Bürkl, am 8. Oktober 2012
„Willkommen in Zirndorf“ ist ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 6. Oktober 2012 überschrieben, der die Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im Landkreis Fürth schildert. Am selben Tag hat „Amerika“ Premiere und so heißt es „Willkommen in Fürth“, wenn sechs Zelte vor dem Eingang zur Spielstätte die Lagerverhältnisse zitieren und zwei Schauspieler davor auf kaltem Boden sitzen. Klare politische Positionierung auch innen: im Foyer Stände von Amnesty International und Pro Asyl, dazu im Programmzettel abgedruckt, die ersten drei Artikel des Grundgesetzes und eine Anfrage an das bayerische Sozialministerium zusammen mit dessen (Nicht-) Reaktion.
Gerhard Meisters Stück „Amerika“, 2008 in Solothurn uraufgeführt, birgt Sprengkraft. Ein Stück, das die moralgebleichte weiße Weste von Schweizern, Europäern, ganz allgemein des Westens alt und löchrig aussehen lässt. Als geschichtliche Ausgangsbasis dient eine Auswanderungswelle aus der ärmlichen Schweiz des 19. Jahrhunderts. Doch es überlappen Vergangenheit und Gegenwart, die südlichen Küsten der „Festung Europa“ und der hochgerüstete Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko. Alles wird wechselseitig aufeinander projiziert und Modelle von Schuld und Unschuld, Gut und Böse, Fremd- und Selbstbestimmung in Frage gestellt.
Bei der Schweizer Uraufführung waren die zwölf Rollen auf fünf Akteure verteilt, was den in einigen Figuren bereits angelegten Opportunismus deutlich verstärkt. Für die deutsche Erstaufführung hat sich die österreichische Regisseurin Katharina Mayrhofer eine andere Konstellation überlegt. In Fürth behalten sieben Schauspieler ihre Rollen als Auswanderer und US-amerikanische Grenzbeamte – die übrigen tauchen ausschließlich im gesprochenen Wort von Rolf Kindermann auf.
Kindermann ist der Gemeindepräsident, der sich von seinen Sozialfällen freikauft und die Auswanderer mit einem Schlepper über die See schickt. Er ist auch ein Matrose, dessen Sarkasmus angesichts der Todesfälle während der Überfahrt nicht zu überbieten ist. Und er ist eine Amerikanerin am Strand, die die angespülten Schiffbrüchigen zuerst fasziniert begafft und schließlich in Lust-Ekel über einen herfällt. Die Stimme, die ausschließlich die „bösen“ Charaktere verkörpert, kommt von vorne, von hinten, von links und von rechts – immer aber von oben, eingespielt über Lautsprecher. Einem übermächtigen Gott gleich, zu dem die Schauspieler aufschauen, wenn sie mit ihm sprechen. Eine Regieidee, die deutlich auf die Hilf- und Ausweglosigkeit der Protagonisten abzielt, dem eigenen Schicksal ergeben. Selbst zum Ende hin kaum Aufbegehren, als einer es „geschafft“ hat und vergiftete Restaurantabfälle entsorgt, damit keine Ratten (lese: seine ehemaligen Freunde) davon essen. Getreten wird immer nach unten, selbst wenn der Abstand nur fünf Dollar pro Woche beträgt.
Die Zweiteilung Schauspieler-Lautsprecher könnte die Inszenierung in eine zu deutliche Gut-Böse-Zeichnung abrutschen lassen, doch diese Befürchtung wird nicht wahr. Während Madeline Hartigs Grenzbeamtin kaum glaubwürdig erscheint und diese, wie auch der von Boris Keil gespielte Auswanderer Hans, unter permanentem Overacting leidet, wächst ein anderer Schauspieler spürbar während des Stücks an seiner Rolle. Zu Beginn kalt und platt, dann immer intensiver und zum Ende hin gefährlich gebrochen spielt Dominique Marterstock den Grenzer, der allabendlich versucht, im Alkohol zu vergessen, dass er inzwischen als Kopfgeldjäger für die Reichen arbeitet. Eindringlich tief auch Laura Steiners Erika, im Fieberwahn antizipierend, was später wirklich passieren soll: ihr eigenes Verspeistwerden.
Auf der Bühne steht an diesem Abend das Junge Ensemble des Stadttheaters Fürth, dessen Mitglieder nicht unbedingt die direkte Laufbahn der Schauspielausbildung eingeschlagen haben. Gleiches gilt für Mayrhofer, die soeben ihr Regiestudium in München beginnt und sich zuvor wissenschaftlich mit Theater und Medien beschäftigt hat. Sie lässt tolle Einfälle konsequent ausagieren: Während einer Art Todeslitanei wird weißer Sand in blaue Plastiktüten gefüllt und diese am quer über die Bühne laufenden Grenzzaun angeknotet. Wie tote Fliegen im Spinnennetz. Dahinter saftiges Gras, Obst, Einkaufswagen und die beiden Grenzer, die das Publikum wiederholt als Gaffer entlarven und dem Treiben der Flüchtlinge wie bei einem spannenden Kinofilm zusehen. Ein besonders starkes Bild zwischen Heimaterde und gelobtem Land sind die Rollrasenstücke, an denen sich die Schauspieler wiederholt abarbeiten – am eindrucksvollsten in einer akribisch geprobten Szene von Zwangshandlungen, bei der sich alle nur auf den kleinen Stücken aufhalten und sich von einer Seite der Bühne zur anderen bewegen. Dazu über Lautsprecher eine historische Abschiedsrede von 1845: „Und sorget dafür, das ist mein letzter und der aus der tiefsten Stelle in meiner Brust emporsteigende Wunsch, sorget dafür, dass keiner von euch verloren gehe auf der langen Reise und ihr alle, ohne eine Ausnahme, im fernen Land gesund und bei guten Kräften ankommt und ein neues, gottgefälliges Leben anfangen könnt.“
Bei Gerhard Meister sind schließlich alle tot, fast alle. Der etwas verquaste Schlussmonolog der letzten noch Lebenden ist schwierig: Ein einziger und scheinbar nicht endender moralischer Appell an die Menschheit (zwölf Mal das Wort „Menschen“). Lilia Akchurina bewältigt diesen hoch souverän und frontal vor einem sichtlich gelähmten Publikum: glaubwürdig, verzweifelt und hilflos flehend. Nicht alles an dieser Inszenierung ist schlüssig oder ästhetisch konsequent. Doch die Otto-Falckenberg-Schule hat eine ziemlich fortgeschrittene neue Studentin und diese macht politisch relevantes Theater. Das ist sehr gut so.