Szene aus "A Wilde Story"

Am Grunde der Wildheit

Marco Goecke: A Wilde Story

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:21.10.2022Vorlage:nach Motiven von Oscar WildeMusikalische Leitung:James HendryKomponist(in):Jules Massenet, Erich W. Korngold, The Smashing Pumpkins u.a.

„A Wilde Story“ nennt Marco Goecke seine jüngste Balletturaufführung – und das mit Bedacht. Die Doppeldeutigkeit gibt dem Choreografen die Möglichkeit, über das rein Biografische hinaus seiner Erfindungskraft Raum zu geben. Natürlich steht Oscar Wilde im Mittelpunkt des abendfüllenden Balletts, aber seine Wildheit, das Getrieben sein, vielleicht auch ein nicht zu verkennendes Maß an Egozentrik thematisiert der Goecke gleich zu Beginn mit einem „schwarzen“ Solo, das den Tänzer kaum zu Atem kommen lässt.

Mit einem Furor ohnegleichen wirbelt Conal Francis-Martin über die eingedunkelte Bühne, während die britische Independent-Band The Smashing Pumpkins ihren Song „Tonight, Tonight“ intoniert. Sein Körper bricht sich Bahn, selbst wenn er gegen eine Wand stößt. Schwer zu erkennen im Schummerlicht von Udo Haberland, lässt sich im Hintergrund allenfalls eine viktorianische Kathedrale erahnen, vor der sich eine Geschichte abspielt, deren Eckpunkte eigentlich keiner großen Erklärung bedürfen.

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Goecke bildet nicht den Lebenslauf des irischen Dichters und Dramatikers in seinem knapp anderthalbstündigen Parforce-Programm sichtbar ab. Das hat wohl auch niemand ernsthaft nach den Erfahrungen mit dem „Orlando“ in Stuttgart, nach seinem „Nijinski“ für Gauthier Dance oder dem „Liebhaber“ à la Marguerite Duras für sein eigenes Ensemble in Hannover erwartet. Fakt und Fiktion fließen in seiner „Wilde Story“ auf faszinierende Weise ineinander. Schwer auszumachen ist dabei, inwieweit sich Goecke in dem seinerzeit von der Gesellschaft schwer gedemütigten Genie selbst erspürt. Auf- und anregend ist der Abend allemal und grandios bis zum verzweifelten Ende, an dem Wilde eigentlich nur noch eine Nachtigall erhört.

Mehr als Wildes Lebensgeschichte

Allein ist er auch zu Anfang, während im Hintergrund immer wieder gespenstische Schatten vorüberhuschen. Erst mit dem Klavierkonzert in Es-Dur von Jules Massenet kommt es zu einer ersten wirklichen Begegnung. Marco Goecke gestaltet das eheliche Miteinander von Oscar Wilde und Constance auf eine behutsame, wenngleich immer wieder neu artikulierte Gestensprache, die sich nicht so leicht dechiffrieren lässt. Schon gar nicht in der Zeit, die einem gegeben ist. So bleibt vieles bewusst im vieldeutig Atmosphärischen – und selbst wenn Goecke seine Protagonisten mal beim Wort nimmt, sagen sie eher Dunkles.

Vordergründiges Verstehen ist nicht Goeckes Sache, „The Wilde Story“ ist kein Bio-Ballett, selbst wenn einzelne Lebensstationen ephemer erkennbar werden. Dichtung und Wahrheit sind vielmehr aus dem Stoff, aus dem Goeckes Tänze sind, und deshalb muss man schon genauer hinschauen, um schemenhaft die Geschichte vom „Glücklichen Prinzen“ zu entdecken. Auch auf das „Bildnis des Dorian Gray“ wird und das Märchen „Die Nachtigall und die Rose“ angespielt. Nicht zuletzt auch auf das Thema Homosexualität, das den anonym erschienenen Roman „Teleny“ seinerzeit zum Skandal machte. Aber all das geschieht nicht einfach Wort für Wort sondern auch, um das Menschliche in Wildes Werken zu ergründen. Das ist auch heute noch spürbar, selbst wenn sich die heutige Gesellschaft nicht mehr so zugeknöpft gibt wie die auf der Bühne des Opernhauses in Hannover.

Dafür findet Marco Goecke immer wieder eine schmerzhafte, wenngleich unvergleichlich schöne, ganz und gar reine Form, die sich von Stück zu Stück weiter intensiviert. Man glaubt, sein vieldeutiges Vokabular aus unzähligen Stücken schon zu kennen, seine traumatischen Gebärden, geballten Bewegungen, sehnsüchtige Schritte.

Und schaut dann fast ein wenig fassungslos auf ein Stück wie „The Wilde Story“, das das Publikum einem der Träger des Deutschen Tanzpreises 2022 wie nie zuvor in die „Tiefe der Seele“ blicken lässt, wie die Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback ihren Programmheftbeitrag titelt. „De Profundis“ nennt Wilde seine „Epistola in carcere et Vinculis“ aus den Jahren 1895 bis 97. Goecke zeigt ihn am Ende seines Stück desillusioniert, kraftlos, zum Verzweifeln. Ein Eindruck, den man aus der Aufführung des Staatsballetts mit in die Gegenwart nimmt. Und das ist gut so.