Foto: Motiv aus „Corpus Delicti“ © Staatstheater Nürnberg
Text:Jan Fischer, am 13. Februar 2021
Gesund sein: Das klingt ja erstmal gut. Und wenn auch noch der Staat dafür sorgt, mit allerhöchster Priorität: umso besser. Oder nicht? Nun ja, je nachdem. Beweisstück A: Juli Zehs Gesundheitsdystopie „Corpus Delicti“.
Dass sich Janning Kahnert für sein Streamingprojekt ausgerechnet diesen Text ausgesucht hat, ist natürlich kein Zufall. Inszeniert hat er ihn während des ersten Lockdowns und über den Sommer, mit dabei sind Mitglieder unterschiedlichster Ensembles: Kahnert hat für „Corpus Delicti“ eine Truppe zwischen Nürnberg, Wiesbaden, Kassel und Hamburg zusammentrommeln können.
Diese Truppe erzählt – in der ersten von drei Onlinepremieren unter dem Dach des Staatstheaters Nürnberg – die Geschichte von Mia Holt (Llewellyn Reichman). In kleinen Einzelszenen und Videokonferenzen beginnt sie, an einem System namens „Die Methode“ zu verzweifeln. Die Methode kontrolliert unter dem Deckmantel der Gesundheit sämtliche Aspekte des Lebens in der dystopischen Überwachungsgesellschaft von „Corpus Delicti“. Die Menschen haben gesund zu sein, Partner*innen immunologisch kompatibel, Schlaf- und Ernährungsberichte müssen an die Methode gesandt werden, ungesundes Essen, Krankheit und Drogenmissbrauch sind Verstöße, die geahndet werden. Mia zweifelt, weil ihr Bruder Moritz (Maximilian Pulst) – zu Unrecht, wie sich herausstellt – von der Methode verurteilt wurde und sich im Gefängnis das Leben genommen hat.
Formal bietet „Corpus Delicti“ dabei aus dem Streamingtheater hinlänglich Bekanntes: Gerichtsverhandlungen werden als Videokonferenzen erzählt, dazwischen gibt es hin und wieder einzelne Szenen mit Moritz und Mia, die in einer Küche oder einem Park spielen. Spannend an dieser Inszenierung ist da eher der Inhalt: Als „Corpus Delicti“ 2009 erschien, ließ es sich als eindringliche Warnung vor einem schleichenden Überwachungsstaat lesen, als Plädoyer für Selbstverantwortlichkeit, gegen staatliche Kontrolle und letztendlich auch für das Recht auf Selbstzerstörung. Das Kernthema von „Corpus Delicti“ ist gar nicht so sehr die Regierungsgewalt, die sich zum Herrscher über die Körper ihrer Untertanen aufschwingt, auch nicht so sehr die „Gesundheitsdiktatur“, es ist im Herzen eine klassische Dystopie, die auf den Pfaden von beispielsweise Orwells‘ „1984“ oder „Demolition Man“ wandelt: Das System von „Corpus Delicti“ hat sich selbst als unfehlbar definiert und ist deshalb von Moritz‘ falscher Verurteilung bedroht, die schließlich ein Beweis für seine Fehlbarkeit ist. Ob die Verfügungsmacht, die Überwachung der Methode sich nun auf den Körper oder die Gesundheit oder sonstige Aspekte des täglichen Lebens beziehen, ist dabei relativ egal: Dass überwacht, verfügt und entmündigt wird, ist die Hauptsache.
Ohne dass Kahnert in seiner Inszenierung groß an der Geschichte herumschrauben muss, muss sie im mittlerweile zweiten pandemischen Jahr natürlich anders gelesen werden. Inmitten einer Gemengelage aus Diskussionen um Impflicht und -privilegien, der Frage, wieviel Freiheit Menschen unter welchen Bedingungen zu ihrem eigenen Schutz genommen werden darf, inmitten des Aufstiegs von Verschwörungsmythen und populistischen Ideologien wird der Text zwar nicht aktueller – tatsächlich wirkt Zehs Dystopie in Kahnerts Inszenierung geradezu harmlos – aber die Fragen, die er aufwirft, stehen in beunruhigend neuem Kontext.
Das zeigt auch die an das Screening anschließende Diskussion auf der Bühne des Nürnberger Staatstheaters, zu der der Regisseur, ein Psychiater und ein Experte für Rechtsextremismus geladen sind. Zuschauer und Zuschauerinnen können Fragen per Chat oder Mail Fragen stellen, aber auch im Chat selbst wird heiß diskutiert. Und selbstverständlich geht es hier nicht um den Kern des Textes – den Überwachungsstaat und den Verlust von Individualität. Sondern eben um Verschwörungsmythen, um Depressionen und Angstzustände, Demonstrationsrecht, um, kurz gesagt: Pandemisches. So zeigt Kahnerts Inszenierung von „Corpus Delicti“ durch das Brennglas des Textes vor allem eines: dass im letzten Jahr eine Diskursverschiebung stattgefunden hat. Dass andere Themen, Sorgen, Ängste, Nöte sich Platz verschafft haben – und dennoch eng verknüpft sind mit dem, was vorher war.