Foto: "Violetter Schnee", hier mit Gyula Orendt (Jan), Anna Prohaska (Silvia), Georg Nigl (Peter) und Ensemble © Monika Rittershaus
Text:Joachim Lange, am 18. April 2020
Die Hoffnung, dass die laufende Spielzeit noch irgendein Live-Ereignis bietet, hat niemand mehr. Bei den Großabsagen fehlen nur noch die Salzburger Sommerfestspiele. Aber in einem der Festspielhäuser am Mönchsberg zu sitzen, kann man sich für diesen Sommer nicht vorstellen. Die Geisterpremieren Anfang März waren wohl das vorerst letzte Wort in Sachen neuproduzierter Live-Oper und das Vorspiel für die „neue Realität“ auf diesem Gebiet, die auch bekennende Verächter von Couch-Opern-Besuchen vor den Bildschirm zwingt. Fürs neugierige Publikum hat das natürlich auch Vorzüge, erlaubt Einblicke, ohne zu reisen oder Geld auszugeben. Für notorische Premierenbesucher wie reisende Kritiker bietet der tägliche Blick in den landesweiten Onlinespielplan der Theater- und Opernhäuser nicht nur die Gelegenheit, der Dauerweiterbildung in Sachen Corona oder den Serienwiederholungen im Fernsehen auszuweichen. Wenn die Verbindung zwischen Heimcomputer und dem TV-Bildschirm erstmal installiert ist, dann gibt es jeden Abend (obendrein mit individuell variabler Anfangs- und jederzeit möglicher Pausenzeit) eine Gelegenheit, interessante Theater- oder Opernaufführungen der letzten Jahrzehnte zu sehen. Da lassen sich nicht nur Bildungslücken schließen, sondern auch die Erinnerungen an die eigenen Premiereneindrücke mit Abstand überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Vorausgesetzt die jeweilige Inszenierung eignet sich auch für das Bildschirmformat. Das ist dann natürlich auch Geschmacksache.
Nehmen wir Beispiele des Online-Angebotes der Staatsoper unter den Linden (die zu den ersten Online-Anbietern gehörte). Die Nahaufnahmen der Gralsritter im ersten Aufzug von Dmitri Tscherniakows „Parsifal“ wirkten vor allem trist und verleiteten in der Pause zur Flucht. Auf der anderen Seite erwies sich ausgerechnet Doris Dörries Operndebüt mit „Così fan tutte“ vor 19 Jahren als ziemlich unterhaltend und bildschirmkompatibel. Dass da eine Filmfrau das Genre wechselte, war offensichtlich ein Plus bei der Konservierung. Es war eine gute Idee, anstelle der eigentlich geplanten Neuproduktion auf diese Flower-Power-Variante zurückzugreifen.
Die Novität von Beat Furrers am 13. Januar 2019 in Berlin uraufgeführter Oper „Violetter Schnee“ zu einem Libretto des opernaffinen und -erfahrenen Österreichers Händl Klaus in den Online-Spielplan der Staatsoper aufzunehmen, war schon deshalb eine gute Idee, weil große Häuser wie das in Berlin gar nicht genug für die Weiterentwicklung des Genres tun können. Versuche, in dieser Richtung mehr zu tun, als nur pflichtschuldig eine „erste Runde“ dem disziplinierten Stammpublikum anzubieten, verdienen per se Respekt. Die Lindenoper bot für diese Produktion mit Furrers Komponisten-Kollegen Matthias Pintscher als Dirigenten am Pult der Staatskapelle gleichsam eine personifizierte Nähe zur Klangwelt des Schweizers auf, wie man sie sich für diese hochprofessionell feingearbeitete, suggestiv eskalierende Musik mit ihrem Changieren zwischen Sprache und Gesang und den zersplitternden Klängen kompetenter kaum wünschen kann.
Hinzu kommt, dass auch Regisseur Claus Guth seit Beginn seiner Karriere eine bewährte Affinität für Opern-Neuheiten hat, quasi ein Uraufführungsfachmann ist, der sich mittlerweile – wiedererkennbar, aber ohne Abnutzungserscheinung – durchs ganze Repertoire gearbeitet hat und davon zu profitieren versteht. Mit Étienne Pluss hat er zudem einen Bühnenbildner an seiner Seite, der sich exzellent aufs Atmosphärische versteht, ohne dabei aufs Naturalistische zurückzugreifen. Wobei sich Ursula Kudrnas Kostüme und Arian Andiels Videos hier organisch einfügen. Hinzu kommen mit Anna Prohaska (Silvia), Elsa Dreisig (Natascha), Gyula Orendt (Jan), Georg Nigl (Peter) und Otto Katzenmeier (Jacques) ein vorzügliches, einer solchen Produktion angemessenes Protagonistenensemble, das von Martina Gedeck als Tanja mit einer keineswegs kleinen oder nebensächlichen Sprechrolle und nicht zuletzt vom Vocalconsort Berlin komplettiert wird.
Dass man daheim, so vorhanden, im Programm den Text mitlesen kann – denn zu verstehen ist der Gesang oft nicht – ist ein Vorteil, den nur der hat, der sein Programm wiederfindet. Wenn sich das Streamen weiter etabliert, wird das wohl nicht ohne Übertitel gehen. Zwei Schritte vorwärts und einen zurück wirkt seltsam unbeholfen – so wie in dem konkreten Fall das Logo des Senders, der die Aufzeichnung dankenswerterweise hergestellt und für Youtube bereitgestellt hat, nervt. Zumindest, wenn die Faszination der Produktion so auf die ästhetische Geschlossenheit der Bilder setzt, wie in diesem Falle.
Insgesamt bleibt diese Online-Variante zwar deutlicher hinter dem Originalerlebnis zurück, wie es stück- und naturgemäß auch bei „Così fan tutte“ der Fall ist. Aber es funktioniert dennoch. Lässt man sich darauf ein, dann entfaltet diese Klang- und Bilderwelt auch am Bildschirm ihren Sog (zumindest bei jenen, bei denen das auch im Opernhaus der Fall war). Auf jeden Fall kann man ihn erahnen. Hinzu kommt, dass die Weltuntergangspoesie des Librettos, die sowohl von Vladimir Sorokins zugrunde liegender Erzählung als auch von Andrei Tarkowskis „Solaris“ oder Lars von Triers „Melancholia“ und nicht zuletzt von Peter Bruegels Winterbild „Jäger im Schnee“ inspiriert ist, frappierend gut zur Krise passt, die die Welt gegenwärtig im Griff hat. Man könnte die rieselnden Schneeflocken beim Abschweifen der Gedanken genauso gut für die bunten Viren-Kugeln halten, die jeden Abend so sichtbar über die Mattscheibe und jeder Zeit so unsichtbar durch die Luft schweben. Auch der ganz eigene Sprachgesang, mit dem Martina Gedeck in Bruegels Winterbild eintaucht oder wie sich Figuren aus diesem Bild traumwandlerisch durch eine zunehmend postapokalyptische Landschaft bewegen, trifft genauer ins Schwarze als noch zur Uraufführung.
Eine Gesellschaft, die in einem noblen Kaminzimmer eingeschlossen ist, geheimnisvolle steile Treppen für einen Ortswechsel zwischen unten und oben, längst verheiztes Mobiliar und aufgebrauchte Vorräte an Essbarem, aufflackernde kannibalische Phantasien und dazwischen eine Party an einem festlich gedeckten Tisch, die genauso gut ein Traum sein könnte – das sind alles Bilder und Assoziationen, die 16 Monate nach der Uraufführung als gespenstische Vision daherkommen. Die letzten Worte, wenn schließlich alles in einem Nichts verschwindet, sind „ich fühle“. Na dann.