Foto: Die Nürnberger Version von Ferdinand von Schirachs "Terror" © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 15. Februar 2016
Wenn der Vorsitzende Richter zu Beginn der Verhandlung (= Vorstellung) an die Rampe tritt und den Schöffen (= Publikum) erklärt, dass sie zunächst mal alles vergessen sollen, was sie schon wissen, möchte man das ganz unabhängig von dieser juristischen Simulation auf die Zuschauer in Ihrer Abonnenten-Urgestalt umwidmen. Bei Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“, seinem ersten dramatischen Versuch nach Absolvierung etlicher Buch-Bestseller, ist ein gewisses Maß an Ahnungslosigkeit nach der ausufernden Debatte um die Doppel-Uraufführung in Frankfurt und Berlin geradezu die Voraussetzung fürs Funktionieren der Plot-Konstruktion. Man weiß einfach arg viel – über die Anklage gegen den Soldaten am Auslöseknopf, der in Abwägung von Opferzahlen (164 Unschuldige im Flugzeug, das vom Terroristen als Bombe auf ein Stadion mit 70.000 ebenso unschuldigen Besuchern gelenkt wurde) die Maschine im Anflug sprengte. Aber auch darüber, dass es einem Bundesverfassungsgerichtsurteil gemäß verboten ist, einzelne Menschenleben gegeneinander abzuwägen, ein nicht besonders heller Verteidigungsminister zu seinen Amtszeiten mit Hinweis auf übergeordneten Notstand dagegen schwafelte. Und schließlich ist auch längst klar, wie der Autor seine zweifellos wasserdichten, steifbeinig vorgetragenen Thesen aus dem dunklen Leitz-Ordner ins Szenen-Licht retten will, indem er alle Anwesenden zur Party-Charade mit Hammelsprung nötigt: Wie möchten Sie gern entscheiden? Also naja, alles was Recht ist…
Frank Behnke, der ansonsten grade mit Schiller und Hebbel etwas tiefgründelnder befasste Schauspieldirektor von Münster und frühere Nürnberger Chefdramaturg, räumt in seiner Regie erst mal die ferne Ahnung von Ballast-Pathos und die nahe Gefahr von Bescheidwisserei beiseite. Auf der Bühne von Günter Hellweg gibt es keine Barrieren zwischen den Fronten, das hohe Gericht sitzt flach mit Anwälten, Nebenklägerin und dem Angeklagten auf einer Ebene, lässig mit oft übergeschlagenem Bein im Spalier von sechs Büro-Rollstühlen (nur der Zeugensitz ist auf Unbeweglichkeit fixiert, da muss man sich verrenken, wenn`s der Wahrheitsfindung dient) und mit der jederzeit absturzgefährdeten Aktenlage auf dem Schoß. Die Protokollantin (= Souffleuse) gehört unbedingt zu dieser Schicksalsgemeinschaft, denn der raschelnde Text ist in seiner spröden Selbstgewissheit wirklich nicht leicht zu packen. Im Hintergrund erkennt man in sechs riesigen Einzel-Buchstaben bühnenbreit die Rückseite des Wortes TERROR, das im Schlussteil, weil ja alles seine zwei Seiten hat, mit dem kompletten Ensemble gewendet wird und aus den Hohlräumen wie für einen Disco-Showdown flimmert.
Mehr „Theater“ wird nicht gemacht, die Inszenierung sucht mit viel Feingefühl die Emphase des Betrachters über die zurückhaltend aufmunternde Charakterisierung der Figuren. Viele vernünftige Leute sind da erkennbar, wenn aus den aufgefächerten Schablonen die Momentaufnahmen von individueller Fassungslosigkeit blitzen. Nur dem Verteidiger (eindrucksvoll eisig: Christian Taubenheim) wird ein Sonderstatus eingeräumt, er darf seine Rolle ausreizen, als im Stuhl fläzender Zyniker beginnen und im flammenden Plädoyer den Racheengel der nächsten Instanz durch den Raum flattern lassen. Die Gegenposition der Staatsanwältin (elegant personifizierte Rechtspflegerin mit vermutbarer Ausbildung in der Wehrdienstverweigerer-Kommission: Adeline Schebesch) hält der Autor mit Floskeln und Metaphern an so kurzer Leine, dass die Regie nur menschelnde Dehnübungen ansetzen kann. Der Angeklagte (Martin Bruchmann spielt ihn jungenhaft idealistisch) wird, damit er nicht zu sympathisch rüberkommt, etwas willkürlich mit dunklen Flecken im Gemütszustand belastet. Nur beim Zeugen, dem irritiert in die Runde guckenden Offizier (Marco Steeger wirft sichernde Blicke nach allen Seiten), und der Nebenklägerin (Josephine Köhler großartig in der Miniatur-Studie der auf Trauer und Verbitterung gestützten Witwe eines der Opfer), kann der Zuschauer das ganze humane Ausmaß des unlösbaren Falls für Momente ermessen. Wo alle irgendwie im Recht scheinen, muss etwas falsch gelaufen sein. Der Text des Juristen Ferdinand von Schirach nimmt das wie einen handlichen Dramen-Brandbeschleuniger, die Inszenierung von Frank Behnke zeigt es als Grundsatz-Problem. Vielleicht genügt es für dieses eine Mal als Qualität, dass im Pausenfoyer tatsächlich überall übers Für und Wider diskutiert wurde. Eine Dramatiker-Karriere kann daraus wohl nicht entstehen.
Die Zuschauer spazieren also zur Abstimmung durch zwei Türen, sitzen wieder und folgen kichernd der Aufforderung, sich zur Urteilsverkündung (der Autor lieferte für beide Möglichkeiten die passende Varianten) zu erheben. Ob man mit dem Premieren-Ergebnis von 108 zu 87 für „Schuldig“ an 164-fachem Mord zufrieden ist oder – in der nächsten Vorstellung kann ja alles anders sein – es nicht zu ernst, also sportlich nimmt, eins ist klar: Der Stelzenlauf des Thesen-Ritters ist in Nürnberg nach zweieinhalb Stunden ohne Sturz im Ziel angekommen. Freispruch für den Regisseur, viel Beifall.