Foto: „Intolleranza“ an der Oper Wuppertal © Bettina Stoess
Text:Regine Müller, am 5. Juni 2021
Ist das jetzt wirklich der Anfang vom Ende der Pandemie? Im März vergangenen Jahres begann die theaterlose Zeit mit einigen so genannten „Geisterpremieren“ wie etwa in Dortmund die von Daniel-François-Esprits Aubers Rarität „Die Stumme von Portici“, die in der Inszenierung von Peter Konwitschny nur vor einer Handvoll Kritiker gegeben wurde. Nun werden die Lockerungen der Maßnahmen überall spürbar, open air darf jetzt schon vor Publikum Theater gespielt werden und in den nächsten Tagen auch in den Theatersälen.
Am Wuppertaler Opernhaus hat man jedoch Ende April entschieden, bis zum Ende der Spielzeit nicht mehr vor Publikum zu spielen. Möglicherweise bereut die Leitung des Hauses diese Entscheidung jetzt angesichts der wieselflinken Öffnung für Publikum, mit der benachbarte Häuser auf die günstige Entwicklung der Inzidenzen reagieren, zum Zurückrudern ist es jetzt aber wohl zu spät. Immerhin gab es nun doch die Premiere des bereits seit 2020 geplanten Ausnahme-Produktion im Kontext des Gedenkjahres anlässlich des 200. Geburtstages von Wuppertals berühmtestem Sohns Friedrich Engels mit Luigi Nonos „Intolleranza“. Aber wieder nur vor einer Handvoll Kritiker, was an den Beginn der Pandemie erinnerte.
Tatsächlich scheint die schüttere Belegung sogar ein Glücksfall für die Produktion zu sein, denn da sich das spärliche Publikum nur im Parkett befindet, können sich die Musiker und Choristinnen auf den Rängen ausbreiten und durch die strengen Hygiene-Abstandsregeln einen imposanten, alles umfassenden Raumklang produzieren. Was aber hat nun eigentlich Friedrich Engels mit Luigi Nonos Opernerstling von 1960 zu tun? Man wolle auf eine wenig beleuchtete Seite von Engels Denken hinweisen, erläutert vor der Vorstellung der Wuppertaler Oberbürgermeister Schneidewind und im Beipackzettel heißt es, man wolle „auf das Zusammenspiel von Arbeit, Migration und Unterdrückung im Kapitalismus blicken“ und damit auch auf das Werk von Friedrich Engels.
Tatsächlich wurde Nonos Werk, das im Auftrag der Biennale von Venedig im dortigen Teatro La Fenice 1961 unter Protesten von Neo-Faschisten zu Uraufführung kam, damals als provozierend politisch verstanden. Der vollständige Originaltitel des epochemachenden Werks lautet „Intolleranza 1960“ in Wuppertal heißt es nun „Intolleranza 2021“.
Regisseur Dietrich W. Hilsdorf übersetzt mit seinem Leitungsteam aus Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) die Geschichte des Emigranten, der sich als Gastarbeiter in der Fremde nach seiner Heimat sehnt, bei der Rückkehr in einer nicht genehmigten Demonstration landet, verhaftet und gefoltert wird, schließlich flieht, sich zum Freiheitskämpfer wandelt und doch in einer Sintflut zugrunde geht, in die unmittelbare Gegenwart.
Zunächst huschen auf dunkler Bühne unablässig weiß gekleidete Statisten in eiliger Reihe von links nach rechts, dann geht zu den ätherischen Klängen des Eingangschores (Chorwerk Ruhr vom Band) sehr langsam der Vorhang hoch und gibt den Blick frei auf einen riesigen Container, wie er heutzutage als Behausung dient für Flüchtlinge oder prekär Beschäftigte. In Wuppertal trifft beides zu, denn der Emigrant ist ein typischer Wirtschaftsflüchtling und arbeitet offenbar in einem fleischverarbeitenden Großbetrieb, seine weiße Montur, die mit ihrer Maske zugleich an Gesundheitspersonal auf den Corona-Stationen erinnert, ist mit Blut bespritzt. Der Container ist karg möbliert mit Plastikstühlen, einem Wäscheständer und ein paar Spinden, zu den Übertiteln werden laufend fortschreitende Daten eingeblendet, es beginnt mit dem 11. Januar 2021 und überholt schließlich die Gegenwart.
Den Konflikt zwischen dem Emigranten und seiner Gefährtin, mit der er sich den elenden Container teilt, erzählt Hilsdorf ernüchternd sachlich, fast kühl, was aber als Gegengift gegen die oft pathetisch gespreizten, mal blumig aufgeschäumten Texte bestens funktioniert. Konsequenterweise bleibt der öde Container der einzige Spielort, Gregor Eisenmann steuert illustrierende Videos bei, die weitere Szenarien wie die verbotene Demo andeuten und später die steigende Sintflut. Ansonsten spielt die Musik und ihr spektakuläres Arrangement im Raum die zweite Hauptrolle: Nono schwebte bei seiner Komposition tatsächlich ein multidimensionaler Raumklang vor, weshalb er das Orchester in vier Gruppen aufteilte. Hier wird das nun mustergültig umgesetzt: Im Graben sind nur die Streicher und die Harfen platziert, die Holzbläser spielen vom Rang hinter dem Publikum, Blech und Schlagzeug befinden sich hinter der Bühne. Die Choristen und Choristinnen des Wuppertaler Opernchores sind ebenfalls im Raum verteilt, rahmen die Bühne und müssen im Grund allesamt solistisch singen. Allein klanglich ist der Abend ein Erlebnis, zumal das fünfköpfige Solisten-Ensemble – überstrahlt von Markus Sung-Keun Parks tenorstrahlendem Emigranten – Großartiges leistet. Gleiches gilt für Chor und das Orchester unter der umsichtigen Leitung von Johannes Harneit und seinem Subdirigenten Stefan Schreiber. Bleibt als Einwand nur der Eindruck, dass insbesondere die Texte von „Intolleranza“ mit ihrem hohen, bemühten Ton heute seltsam gealtert und vor allem lebensfern wirken. Dennoch unbedingt empfehlenswert.
Die Premiere vor kleinem Publikum wurde aufgezeichnet, Onlinepremiere ist am Fr. 18.6. im Stream, weitere Streaming-Termine: 26.6.,2.7., 13. & 27.8.