Foto: Invasion der Grammophone auf der Galopp-Rennbahn. Ascot Gavotte mit Katharina Mehrling als Eliza (Mitte) © Iko Freese/Drama Berlin.de
Text:Andreas Falentin, am 29. November 2015
Pause. Auf dem Weg ins Foyer.
Zuschauerin 1: „Könnt’n echter Renner wer’n, wa?“
Zuschauerin 2: „Ja. Und ick bin echt froh, dass ses nich‘ als Klamotte inszeniert ha’m. Passiert ja hier manchma‘.“
Nein, das haben ‚sie‘ tatsächlich nicht getan an der Komischen Oper. Dabei ist „My Fair Lady“, im November 2015 Deutschlands meistgespieltes Theaterstück, für den heutigen Regisseur überhaupt keine einfache Aufgabe. Weil die sozialen Barrieren heute andere sind. Weil Dialekte und Akzente heute eine andere Beziehung zum Sozialstatus haben als vor 50 Jahren. Vor allem aber, weil die Nostalgie sich vor alles andere zu stellen scheint. Wer „My Fair Lady“ denkt, denkt Audrey Hepburn und Rex Harrison – vielleicht auch Karin Hübner und Paul Hubschmid, die Protagonisten der immens erfolgreichen deutschen Erstaufführung im Jahr 1961. Da haben dann gerade ältere Zuschauer auch gleich im Kopf, wie das Stück auszusehen hat. Und viele Regisseure beugen sich diesem Diktat und buchstabieren die Handlung in stilisierten „realistischen“ Kulissen nach und verkleiden sie mit möglichst charmanten Choreographien und möglichst vielen gut konsumierbaren Gags.
Davon ist auch Andreas Homoki bei der – tatsächlich! – Erstaufführung an der Komischen Oper nicht völlig frei. Was Higgins und Pickering etwa während „Warum kann ‚ne Frau…“ mit einem überlangen Telefonkabel anstellen, ist durchaus nah an der harmlosen Klamotte. Im Großen und Ganzen aber hat Homoki die Aufgabe bewältigt, das Stück aus heutiger Sicht zu befragen.
Zu Beginn steht ein rotes Grammophon im leeren Raum. Dann geht der Vorhang zu. Kein Ausstattungspomp. Kein Milieu-Realismus. Den ganzen Abend sehen wir auf Vorhänge und viele, viele Grammophone. Für die Andeutung von Higgins‘ Behausung auf der Vorderbühne reicht ein Ledersessel. Der Rest sind Kleinigkeiten: Texte und Lieder scheinen spontan aus den Beteiligten hervorzubrechen. Das Grammophon als optischer Rahmen vermeidet viele Peinlichkeiten und spendet schöne Bildideen. Einmal fungiert die Drehbühne selbst als Plattenteller. Ein andermal, bei Doolittles Hochzeitssong, rutschen etliche hübsche Charleston-Bräute aus einem überdimensionierten Trichter. Dazu werden Chor, Tänzer und Statisten ins Geschehen einbezogen, wo immer es geht, auch gerne dort, wo Loewe und Lerner Solistisches vorgesehen haben. Und alles dient dem Fluss, alles, Schauspiel und Musik, ist rythmisiert und dabei von seltsamer Leichtigkeit. Dieser Abend tanzt durch, befeuert von Kristiina Poska, die mit dem Orchester der Komischen Oper einen federnd geschliffenen Soundtrack liefert.
Dabei sind die Figuren eigentlich aus Übertreibungen zusammengebaut. Der saftige Doolittle von Jens Larsen etwa ist gleichzeitig nostalgischer Antiheld der Arbeit und heutige Witzfigur, viel Erwin Geschonneck mit ein wenig Markus Maria Profitlich. Und der Pickering des ungemein präsenten Christoph Späth scheint sich gleichzeitig in zwei komplett verschiedene Richtungen zu bewegen, ein linkischer Elegant, ein anpassungsfähiger Sonderling. Noch spannender ist Katharina Mehrlings Eliza. Ihr nimmt man sowohl das Blumenmädchen als auch die Lady ab. Aber sie ist kein Sonnenschein wie weiland Audrey-Darling. Sie hat Widerhaken und führt die ihr von Higgins auferlegte Glätte im zweiten Teil geradezu unangenehm vor. Als hätte Carmen Maja Antoni einen Kurs bei Helene Fischer belegt. Und Mehrling singt und tanzt fantastisch. Das hohe C in „Ich hätt‘ getanzt heut‘ Nacht“ lässt sie aus – zugunsten intensiven Nicht-Spektakels im leeren Raum. Dafür liefert der junge Johannes Dunz als Freddy einen gewaltigen hohen Ton am Ende seines Liedchens, den Loewe nicht geschrieben hat, der aber das Haus rockt. Zweites Zentrum des Abends ist Max Hopp als Higgins. Wie weiland Harrison geht er die Songs dezidiert als Schauspieler an, also vor allem von Rhythmus und Rhetorik herkommend – und ist dabei unglaublich viel beweglicher als das große Vorbild. Hopp, mehr noch als alle anderen Figuren, legt die heute wieder sehr aktuelle Ambivalenz des Stoffes frei: Wie herrlich ist der Mensch, der Selbstverwirklichung und persönliches Glück über alles stellt – und wie sehr zu bedauern!