Foto: William Parton (Don Quijote) und Miguel Rodriguez (Sancho Panza) © Vincent Leifer
Text:Juliane Voigt, am 19. Juli 2018
Ralf Dörnen choreographiert einen modernen Don Quijote in Greifswald/Stralsund: „Die Träume des sinnreichen Junkers Don Quijote de la Mancha – Ritter von der traurigen Gestalt“
Schon das erste Bild war ein Aufreger. Als präsentiere sich ein fremdes Wesen, drehte sich der Tänzer William Parton auf einem Bücherstapel sitzend und lesend in ein Buch versunken, langsam auf der Drehbühne herum: Ein Tänzer im deutlich fortgeschrittenen Alter. Braune Cord-Knickerbocker, Hemd und Weste, weißer gezwirbelter Schnauzer, spitzer Kinnbart. Und kaum, dass er von seinem Diener Sancho Panza (Miguel Rodriguez), den er sich in der ersten Szene aus der ihm völlig entrückten turbokapitalistischen Außenwelt rekrutiert hat, mit einem Barbierbecken gekrönt wird, ist er überdeutlich auf dieser Bühne angekommen: Don Quijote! Dem Klassiker aus dem Bücherregal, dem Roman von Miguel des Cervantes entstiegen.
Es geht hier nicht um das mehr als 100 Jahre alte „Don Quijote“-Ballett von Marius Petipa. Ralf Dörnen hat in den 20 Jahren als Ballettdirektor und Choreograf des Ballett Vorpommern immer mehr die Position eines Erzählers eingenommen. Es sind dramatische Bühnenwerke, die er mit seinem Ballett-Ensemble in eine immer auch doppelbödige Tanzsprache übersetzt. Das Ballett „Casanova“ 2016 hat er aus dessen Tagebüchern heraus entwickelt und lässt den verbitterten Greis selbst auf seine Jugend zurückblicken. „Rebekka“ im Vorjahr nach dem Roman von Daphne du Maurier war eine Annäherung an die übermächtigen Schatten der Vergangenheit. Und nun „Don Quijote“, auch eine literarische Vorlage. Der spanische Ritterroman aus dem 17. Jahrhundert. In welchem ein in die Jahre gekommener Landadeliger so viele Ritterromane liest, dass er sie schließlich für absolut wahr hält und sich in gefährliche Abenteuer und wüstes Getümmel stürzt. Für die gute Sache. Die Illusion eines sinnvollen Lebens.
Es verschlägt den spanischen Edelmann in das Paris der beginnenden Moderne. Und nachdem er meint, die Ehre aller Prostituierten im Moulin Rouge gerettet zu haben, lässt er sich, ungeachtet des offenkundigen Spotts aller Anwesenden, mit einem Champagner-Kühler krönen und zum Ritter schlagen. Das ist eigentlich komisch. Der wortlose Slapstick trägt durchaus Chaplin’sche Züge. Aber es ist vor allem rührend. Man erkennt in dieser Szene die Schutzlosigkeit dieses liebenswürdigen und ritterlichen Retters. Die bunte Knete in seinem Kopf. Und das macht den Abend so zweidimensional. Es ist einerseits ein ungeheuer leichtfüßiger Spaziergang durch Don Quijotische Zeiten und Räume. Die Traum sind oder real, das weiß man nicht.
Die Bühne hat einen transparenten Hintergrund, durch die Menschen kommen und gehen. Andererseits lässt sich leicht ahnen, worauf sein Kampf hinauslaufen wird. Denn schon die Windmühlen, die Gegner der berühmtesten seiner Schlachten, sind voller Untergangs-Symbolik. In mittelalterlichen Todesmasken und hochgeschnürten schwarzen Leder-Trikots, wirbeln die Tänzer furchteinflößend mit Heulschläuchen herum. Don Quijote hat es dafür als Alt-Rocker in das New York des Jahres 2035 verschlagen. Und immer wirft er sich in den Kampf für die gerechte Sache, um anschließend festzustellen, dass es alles nur Fake war. Jeweils bildgewaltige Szenerien die sich am Ende in Parodien auflösen. Der mittelalterliche Hof, wo die Burg-Fräuleins mit spitzen Tüten auf dem Kopf herumlaufen und sich von Männern in hochkragigen Samtüberhängen herumdrehen lassen, entpuppt sich als Kölner Karnevalsverein. Und das harmlose wie aufgezogen tanzende Pärchen auf der Venzezianischen Kleinkunstbühne als libidinös verschlagenes Betrügergespann.
William Parton wirkt neben den jungen Tänzern des Ballett Vorpommern alles andere als statisch. Er verkörpert die Rolle ebenso tänzerisch wie auch schauspielerisch. Es gelingt ihm, eine fast körperlich spürbare Spannung aufzubauen. Dabei hat er kaum einen Moment zum Durchatmen, denn nur in der Pause ist er mal nicht auf der Bühne. Sonst immer in diesem knapp zweistündigen Ballettabend. Der Amerikaner war ebenso wie Ralf Dörnen Tänzer am Hamburger Ballett von John Neumeier. Und ist noch dazu Schauspieler. Die Tänzer des Ballett Vorpommern harmonieren auf seltsame Weise mit dieser Figur auf der Bühne. Das hat auch etwas mit der Geschmeidigkeit Partons zu tun, der diesen einerseits ins Leere strampelnden, wildentschlossenen Don Quijote zeigt ebenso wie den verletzlichen und verzweifelten, um den herum sich die Szenen aufbauen.
Ralf Dörnen hat sich neben William Parton für diese aufwändige Produktion ein Team zusammengeholt, mit dem er blind arbeiten kann. Die Ausstattung von Klaus Hellenstein ist eine Bühnen- und Kostümorgie. Nicht unmittelbar. Aber unter den Cancan-Röcken wütet plötzlich ein Flammenmeer aus Tüll lichterloh. Ein Bücherstapel ähnelt bei entsprechendem Gebrauch einem Reittier, denn was wäre Don Quijote ohne seine Rosinante. Alles ist zauberhaft, märchenhaft, selbsterklärend. Die Musik schließlich ist die Auftragskomposition des Karlsruhers Stephan Marc Schneider. Der ähnlich zweidimensional an Don Quijote herangeht. Barocke Anklänge, Musik der spanischen Renaissance kommen vor. Aber auch überlagert von experimentellen Samples und harten Beats. Das Parodieverfahren hier durchaus im wörtlichen Sinne angewandt. Eingespielt hatte diese musikalische Uraufführung das Orchester des Theaters Vorpommern unter der Leitung von GMD Florian Csizmadia.
Warum Ralf Dörnen dieses Ballett an das Ende seiner 20. Jubiläums-Spielzeit sozusagen als finalen Höhepunkt setzt, ist selbsterklärend, wenn man seinen jahrelangen Kampf gegen die Amtsmühlen des Schweriner Kulturministeriums beobachten konnte. Als Kulturpreisträger des Landes hat er seine Stimme erhoben. Gegen Kulturverlust. Für die öffentliche Finanzierung von Theatern. Dass dieser Kampf nicht ebenso sinnlos sein würde, wie der des spanischen Ritters gegen die Windmühlen, das ließ sich gar nicht absehen, als er ihn zum Titelhelden seines Jubiläums-Jahrs erhob. Die Theater in M-V haben erst kurzfristig die erlösende Nachricht bekommen, dass sie weder schließen noch fusionieren müssen. Das war auch Dörnen’s Sieg. Der in Don Quijote noch einen ganz anderen Aspekt bewundert: „Don Quijote versucht, die Welt zu verbessern ohne Rücksicht auf sich selbst manchmal auch ohne Rücksicht auf andere. Und scheitert eins ums andere Mal und steht aber immer wieder auf. Der ist ein Stehaufmännchen und geht wieder drauflos und er versuchts wieder und wieder und wieder und ich habe das Gefühl, er ist eigentlich gar nicht der Verrückte, sondern alle anderen um ihn rum sind die einfach nicht begreifen, was er will.“
Das lässt Ralf Dörnen auf dieser Bühne nicht zu. Don Quijote wälzt sich hier an seinem Ende am Boden, gehüllt in eine Zwangsjacke und reißt wie ein hungriges Tier im Todeskampf sogar mit den Zähnen die Seiten aus den Büchern, die ihn um die Welt betrogen haben. Aber schließlich sind es die Hipster aus der ihm entrückten Smartphone-Welt des Turbokapitalismus, die, auf Bücherstapeln sitzend, lesend in der Welt der Bücher versinken. Das Greifswalder Publikum hat getobt vor Begeisterung. 15 Minuten Standing Ovations. Am Sonnabend ist noch eine Premiere im Stralsunder Theater.