Foto: Mitglieder des Ensemble Modern in der Frankfurter Verfassung von "Landschaft mit entfernten Verwandten". © Monika Rittershaus
Text:Andreas Falentin, am 2. Mai 2013
Das ungewöhnlichste an diesem komplett ungewöhnlichen Projekt ist seine lange Lebensdauer. 2002 erarbeiteten der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels, der Dirigent Franck Ollu, der Bühnenbildner Klaus Grünberg, die Kostümbildnerin Florence von Gerkan, der Schauspieler David Bennent und das Ensemble Modern „Landschaft mit entfernten Verwandten“. Seitdem ließ sie das Projekt nicht los, machte zahlreiche Metamorphosen durch und wurde immer wieder neu zur Diskussion und Betrachtung freigegeben. Jetzt kam die „Frankfurter Fassung“ erstmals im Bockenheimer Depot zur Aufführung.
Das Projekt basiert auf einem Konglomerat von Texten, die um die Verzahnung von Kunst und Geschichte kreisen. Das Ergebnis sind Bilder, die man mit dem gleichen Recht als asketisch und opulent bezeichnen könnte. Ausgehend von europäischen Gedankengebilden, etwa von Gertrude Stein, Michel Foucault und T.S. Eliot, ereignet sich eine kulturelle Weltreise mit Klangschalenkonzert, Derwischtänzen zu authentischer Musik, seltsam schwerelosem American Folk, britischem Rokoko, französischem Barock und italienischer Renaissance. Die Übergänge sind klar und fließend. Die fantastischen Mitglieder des Ensemble Modern musizieren nicht nur mit selten gehörter Schönheit und Lebendigkeit, sie stehen auch auf der Bühne, singen, tanzen und bedienen riesige Pappmachépuppen. Das alles kommt leicht daher, mit nur wenig, genau bemessener, zart poetischer Melancholie und einigen Überraschungen. Die schönste schenkt der indische Geiger Jagdish Mistry. Da scheinen sich acht Musiker zu einer kammermusikalischen Darbietung zu versammeln. Plötzlich hält er die Geige vor sich und singt mit brüchiger Stimme ein kleines indisches Lied hinein wie in ein Zuhause, pastellen schimmernd begleitet von den Kollegen.
Verglichen mit der CD-Aufnahme von 2007 hat die Musik an Kraft, Dynamik, vor allem an Trennschärfe noch gewonnen. Der Komponist, vor allem der Klangdesigner Goebbels legt hier vielleicht seine stärkste Arbeit vor, fantastisch austariert im sich Durchdringen von Analogem und Digitalem. Diese Musik ist so stark, trägt soviel szenische Kraft in sich – selbst wenn das Ensemble Modern einfach mit vermummten Gesichtern in Orchesterformation auf der Bühne sitzt -, dass der Regisseur Goebbels es nicht leicht hat, die sonderbar deutlich vorgegebenen theatralischen Räume zu füllen. Dazu kommt die Flut, die dreisprachige Wucht der Texte, die dem überforderten Zuseher und –hörer schon mal in Klang und Graphem zerfallen, so dass er nicht in der Lage ist zu unterscheiden, ob gerade ein tiefer Gedanke geäußert oder die Abwesenheit eines solchen verhüllt wird. Es ist eine große Stärke dieser Theaterarbeit, dass die Intensität und Schönheit von Bild und Klang geistige Nachforschungen in dieser Richtung obsolet machen.
Wenn es in diesem totalen, sinnlichen, vollkommen fließenden Weltkulturtheater überhaupt einen blinden Fleck gibt, dann ist es das Fehlen theatralischer Entfaltung unterhalb der Eleganz. Die perfekten Anordnungen der Regie, der perfekt ausbalancierte Klang, die ökonomische, stimmige, exquisite Ausstattung postulieren einen Traum von reiner Schönheit. Aber ist die wirklich erfahrbar ohne eine Gegenposition, ohne zumindest ein Aufflackern von Hässlichkeit, Dreck, Unordnung? Müsste eine brennende Stadt, auch wenn es sich nur um ein Holzmodell handelt, nicht zumindest einen Moment wirklichen Schmerzes bereiten, bereiten wollen? In der wunderbar rotzigen Energie, mit der sich David Bennent über längere Strecken durch den Abend bewegt, liegt vielleicht ein Hinweis, wie sich diese gelebte Vision in drei oder zehn Jahren präsentieren könnte.