Foto: Katharine Tier (Waltraute, 1. Norn, Flosshilde), Dilara Ba?tar (2. Norn, Wellgunde), An de Ridder (3. Norn) © Matthias Baus
Text:Joachim Lange, am 16. Oktober 2017
Tobias Kratzer inszeniert Wagners „Götterdämmerung“ am Badischen Staatstheater in Karlsruhe
Geschafft. In Karlsruhe haben Tobias Kratzer und Justin Brown den dortigen Vierer-Ring mit der „Götterdämmerung“ vollendet. Ende gut, alles gut? Es beginnt jedenfalls mit einem „THE END“-Schriftzug auf einem roten Samtvorhang. Davor sitzen drei junge Männer auf Regiestühlen auf denen Rheingold, Walküre oder Siegfried steht. Lässige Jungregisseure am Ende einer Vorstellung? Bei der Abnahme des Gesamtprojektes? Einer hat die Partitur-Wälzer neben sich liegen. Bei einem anderen baumelt eine Handkamera über der Lehne. Der dritte hat einen Beutel mit einem Batman-Logo dabei. Da sie Wagners Nibelungen-Story in Karlsruhe nach dem Stuttgarter Modell gestemmt haben, stehen diese drei für David Herrmann, Yuval Sharon und Thorleifur Örn Arnarsson. Hermann hatte die Chance genutzt und im „Rheingold“ die ganze Ringstory als einen den großen Untergang ahnenden Alptraum Wotans erzählt. In der Walküre wird bei dem Amerikaner die aufmüpfige Wotanstochter Brünnhilde zum Schluss mal nicht von einem lodernden Feuer umgeben, sondern tiefgefroren. Was freilich den Isländer nicht sonderlich beeindruckt haben kann, da sich sein Siegfried sich in einer opulenten Rumpelkammer der Geschichte wiederfindet.
Mit der „Götterdämmerung“ liefert Kratzer jetzt (mit dem Privileg des Letzten unter den Vier) einen ebenso witzigen wie dramaturgisch verblüffend stimmigen Rückbezug zu den vorangegangenen Teilen. Er zitiert aber nicht die Ästhetik der dort erzählten eigenen Geschichten oder einzelne ihrer Bilder. Er lässt einfach seine Kollegen mitspielen. Nicht als naturalistische Doubles, aber als exemplarische Typen. Sie beobachten, staunen, sind manchmal schockiert über das, was passiert, geben sich gegenseitig Tipps und versuchen immer wieder einzugreifen. Dafür übernehmen sie bewusst auch die Rollen der Nornen oder der Rheintöchter. Für die setzten sie sich sogar Perücken auf und ziehen sich Schwanzflossen über. Als es nicht gelingt, bei so einem Eingreifen der schlafenden Brünnhilde den Ring vom Finger zu ziehen, muss eine von ihnen die Rolle der Waltraute übernehmen. Den Vorschlag der anderen, dazu ein rosa Kleid überzuziehen, verwirft er (bzw. sie). Ein kariertes Hemd, so wie es Brünnhilde auch trägt, tut es dann aber auch. Erfolg hat auch sie damit natürlich nicht. Brünnhilde gibt den Ring nicht her, und sei es für den Preis des Untergangs der Götterwelt.
Die drei Jung-Regisseure sympathisieren dabei offensichtlich zunehmend mit der rebellischen Wotanstochter. So löst einer ihre Fesseln, als Gunther sie wie ein Stück Beute anschleppt. Und sie versuchen am Ende jenes Unheil abzuwenden, das sie aus der Partitur kennen. Wenn die Nornen singen, dass sie angesichts der Wirrnisse in der Welt zurück zur Mutter wollen, dann schlagen die Regisseure in der Partitur nach. Es ist typisch für den auch selbstironischen Witz von Kratzers detailversessener Personenregie, dass dabei einer der Regisseure (wer das ist, wird hier nicht verraten) die Partitur erstmal falsch rum hält.
Mit diesen gleichsam von außen ins Stück kooptierten Figuren ist Kratzer dicht bei Neuenfels, nur dass er schon vorhandenen Figuren eine zweite Rolle hinzufügt. Maßgeschneidert ohne auch nur eine Falte durch schlechten Sitz. Die Pointe dieser Anlage kommt zum Schluss: Metaphorisch schleudert Brünnhilde ja das Feuer nach Walhall. Hier flackert vorn rechts ein Feuerchen vor sich hin. Brünnhilde aber steigt aus dieser Katastrophe aus, holt sich einen vierten Regiestuhl und übernimmt die Inszenierung des Finales nach ihrem Wünschen. Sie lässt die Geschichte einfach rückwärts laufen. Bis zu dem Augenblick, an dem Siegfried sich heimlich aus ihrem Schlafzimmer schleicht. Diesmal lässt sie ihn einfach nicht gehn. Mal eine freundlich utopische Version alternativer Fakten….
An diesem Abend kommt einem aber noch ein zweiter großer Name der Regie-Zunft in den Sinn. Die durchweg meisterhafte Personenregie und die dadurch ermöglichten psychologischen Porträts auch der Figuren, über die das Urteil meistens schon feststeht, hat das Niveau der besten Arbeiten Peter Konwitschnys. Hier ist jede Bewegung, jede Geste, jeder Gefühlsausdruck musikalisch legitimiert und menschlich nachvollziehbar, ja oft tief berührend.
Zum Beispiel Gunther. Es ist oft ein unbefriedigend gelöstes Problem einer Götterdämmerung, wenn ausgerechnet Gunther (und nicht, wie in Joachim Herz’ legendärer Leipziger Deutung, höchst einleuchtend Wotan) demonstrativ um den toten Siegfried trauert. War er doch von Anfang an in die Intrige eingeweiht und hat sie mehr oder weniger aktiv mit befördert. Bei Kratzer ist diese grenzenlose Trauer schlüssig legitimiert. Durch eine tiefe Zuneigung, die deutlich einen Schritt über die offen zelebrierte Blutsbrüderschaft mit Siegfried hinausgeht. Wenn ihm nicht immer einer dazwischen gekommen wäre, dann hätte dieser Gunther (dessen äußere Erscheinung durchaus von Ferne an Ludwig II. erinnert) den in dieser Hinsicht vollkommen verspielt offenen Siegfried geküsst. Die Trauer um ihn ist von Armin Kolarczyk so elementar gespielt, dass man sich wie ein Voyeur vorkommt, wenn man dabei zusieht. Als sich zum Trauermarsch alle wieder verzogen haben, steht Gunther wie erstarrt mit dem Rücken zur Wand. Versucht dann Siegfried vergeblich wieder zu wecken und wirft sich schließlich über die Leiche – wie Cosima über den verblichenen Richard, oder wie er es hier vielleicht gerne beim lebenden Siegfried gemacht hätte. Das mag etwas gewagt sein, aber eine Antwort auf eine der Fragen, die sonst immer offen bleiben, wenn sich der Vorhang schließt. Auch auf die, was auf dem Brünnhildenfelsen in jener Nacht, als die beiden samt Tarnhelm dort oben waren, wirklich geschah, gibt es eine Antwort. Nachdem vorher ausführlich und mit verblüffend einfachen Mitteln des Als-ob-Spiels (Maske runter, Träger für alle anderen auf der Bühne unsichtbar, Maske hoch: da ist er wieder) in die Funktion des Tarnhelms eingeführt wurde, wissen wir, in welcher Rollenverteilung die beiden bei Brünnhilde vorgegangen sind. Sie sieht immer nur Gunther und muss aber der Kraft des Unsichtbaren nachgeben. Ins Bett soll dann Gunther steigen, während sich Siegfried vor dem geschlossenen Vorhang selbst in die Hose greift. Aber Gunther packt es nicht, er kommt vor den Vorhang und Siegfried muss auch den „Rest“ übernehmen. Damit er sich nicht verrät, gibt ihm Gunther den Ring wieder. Womit auch der verhängnisvolle Fehler dieser beiden Blutsbrüder der besonders engen Art nachvollziehbar geklärt wäre.
Es heisst immer, dass es im „Ring“ um Geld, Macht und Liebe geht. Hier geht es auch um die Anwendung von Macht und Gewalt, als Sublimierung von sexuellem Versagen oder Versagensängsten. Bei Hagen zum Beispiel. Diesmal bleibt es nicht bei seiner Selbstbeschreibung als frühalt, unfroh und bleich. Wir erleben auch ihn als einen Geschlagenen, der zärtlich nur zu dem Pferd Grane ist und der sich (zumindest andeutungsweise) wie Klingsor selbst kastriert, also wie sein Vater Alberich, um der Macht willen der Liebe abschwört. Hagen ist auch bei Konstantin Gorny der exemplarische Finsterling, aber wir erfahren weit mehr als üblich über seine innere Verfassung. Schade, dass Wotan in der Götterdämmerung nicht mehr mitspielt.
Für Kratzers durchweg hochspannende, psychologisch lotende Personenregie hat ihm Rainer Sellmaier die (wie beide selbst sagen) bisher abstrakteste und schmuckloseste Bühne gebaut. Der Vorhang, eine Schlafzimmersuite mit Himmelbett. Und wenn die im Bühnenhintergrund entschwindet, gibt es einen an drei Seiten komplett verspiegelten Saal. Es erinnert von Ferne an den Stuttgarter Siegfried, wenn der Bursche hier über sein Spiegelbild staunt, als er bei den Gibichungen auftaucht. Der Spielwitz, an die dortige „Götterdämmerung“. Da war Grane als Steckenpferd mit von der Partie. Hier ist das Tier erst nur durch sein Zaumzeug im Türrahmen, oder die Möhren die es vermutlich schnurpst, als Siegfried sie ihm zureicht, imaginiert. Es steht dann aber als „richtiges“, lebendiges Pferd auf der Bühne. Wenn beim Jagdausflug im dritten Akt dann die Männer nicht nur die Bäume für den Rastplatz mitbringen (der Wald von Birnam lässt grüßen), sondern auch Steaks auf dem Grill gewendet werden, einer der Männer die Reste von Zaumzeug in der Hand hält und es Gunther, als er den Zusammenhang herstellt, schlecht wird, dann ahnt man, was aus dem toten Pferd geworden ist, mit dessen Blut an den Händen Hagen, Brünnhilde und genötigterweise auch Gunther ihren Racheschwur besiegelt hatten. Wenn Brünnhilde am Ende davon singt, wie sie mit ihrem Pferd ins Feuer springen wird, dann ist es logisch, dass sie nur noch die entsprechenden herausgerissenen Seiten der Partitur ins Feuer werfen kann.
Kratzer ist eine schlichtweg atemberaubende „Götterdämmerung“ gelungen. Klug durchdacht, mit subversivem Spürsinn für die Bedeutungsschichten unter der Oberfläche und mit einer durchweg meisterhaften Personenregie. Er stellt einen Bezug zu den anderen Teilen her, nutzt aber die Singularität dafür, sich auf den Psychokrimi und den Blick in den Abgrund Mensch zu konzentrieren. Hätte er (jetzt schon) den ganzen Ring gemacht, wäre er einer Haltung zum Weltenende sicher nicht ausgewichen. Wenn er nicht schon in Bayreuth für den nächsten Tannhäuser nominiert wäre und sich nicht schon u.a. mit seinen „Meistersingern“ in Karlsruhe dafür qualifiziert hätte – spätestens jetzt wäre es Zeit!!
Bei einer so gelungenen szenischen Deutung wäre man, als begeisterter Zuschauer durchaus bereit, Abstriche bei der musikalischen Seite des Abends hinzunehmen. Muss man aber nicht. Weil auch da in Karlsruhe ein Orchester und Sängerdarsteller am Werke sind, die keine Wünsche offen lassen.
Im speziellen Fall muss man da mit den drei regieführenden Nornen Katherine Tier, Dilara Bastar und An de Ridder beginnen. Das Spiel von Frauen, die Männer spielen, die dann Frauen spielen, hat auch bei ihnen einen eigenen komödiantischen Charme. Katherine Tier beeindruckt dann zusätzlich mit ihrer Waltraute. Daniel Frank ist als unbedarfter, sympathisch offener, dabei leicht prolliger Siegfried fabelhaft sicher und strahlend. Das vokale Kraftpaket Heidi Melton liefert als Brünnhilde nicht nur einen tadellosen Parforceritt durch die Gefilde des Hochdramatischen, ohne dabei das Maß zu verlieren. Sie ist erneut der überzeugende Beweis dafür, dass darstellerisches Charisma und Beweglichkeit rein gar nichts mit einer stattlichen Figur zu tun haben. Wenn Sängerinnen und Regisseur damit umgehen können, spielt das nach wenigen Augenblicken überhaupt keine Rolle. In Karlsruhe können sie das auf Lehrbuchniveau! Ihre faszinierende Erforschung des Inneren von Hagen und Gunther krönen Konstantin Grony und Armin Kolarczyk mit fabelhafter vokaler Präsenz. Dazu noch Jako Venter als stimmgewaltiger Alberich und Agnieszka Tomaszewska als Woglinde (Wellgunde und Floßhilde übernehmen zwei der Regisseure…) und ein präzise von Ulrich Wagner einstudierter und aufgerüsteter Chor in Hochform.
Sie konnten alle mit Stolz in den diesmal ja vorhandenen Spiegel schauen und den Jubel des Publikums entgegennehmen. Der natürlich auch der Badischen Staatskapelle unter Leitung von Justin Brown galt. Mit dem ausgeprägten Sinn fürs Detail traf er sich mit der Regie genauso wie mit dem Blick fürs Ganze. Aus dem Graben war auch diesmal eine prachtvolle Götterdämmerungsmusik zu vernehmen. Auch wenn sie wie im Trauermarsch oder den Mannenchören kontrolliert eskalierte. Die paar Buhs, die sich unter die stürmischen Bravos für die Regie mischten, müsste man diesmal den Verursachern zurückgeben. Als Empfehlung noch mal hinzugehen und genauer hinzuschauen. So was wie diese „Götterdämmerung“ in Karlsruhe kriegt man nämlich nur aller Jubeljahre zu sehen.