Foto: Ensemble des Hamburger Thalia Theaters in "Der schwarze Mönch" © Krafft Angerer
Text:Michael Laages, am 23. Januar 2022
Viermal die gleiche Geschichte, und jedes Mal anders – aus verschiedenen Perspektiven nimmt Kirill Serebrennikow, der russische Regisseur, der zur Überraschung aller Beteiligten im Januar plötzlich doch aus seinem Land aus- und zu den Endproben in Hamburg anreisen durfte, die Geschichte des extrem zur Zerstörung talentierten jungen Intellektuellen Kowrin ins Visier. Und intensiv wie kaum je zuvor im Theater zu erleben, zieht er das Publikum tief hinein in diesen Teufelskreis der Selbstvernichtung.
Neben Toshiki Okadas ebenfalls in Hamburg vor Ort entstandener Produktion „Doughnuts“ können die „Lessingtage“ des Hamburger Thalia Theaters mit einem Ereignis aufwarten wie derzeit keine Bühne sonst. Denn ein Gefühl hat sich gestern Abend in der Uraufführung eingestellt , das extrem selten ist: mehr nämlich zu erleben als einfach nur eine bis ins Äußerste gelungenen Aufführung im Theater. „Der schwarze Mönch“ – entstanden nach einer in Russland sehr, aber hierzulande fast gar nicht bekannten Erzählung von Anton Tschechow aus dem Januar 1894 – wird ähnlich intensiv und grundsätzlich in Erinnerung bleiben wie frühe Inszenierungen von Peter Brook oder vor 30 Jahren die ersten Begegnungen mit dem Regie-Handwerk von Frank Castorf. „Der schwarze Mönch“ ist ein Stück für dieses Jahrzehnt. Und hoffentlich gelingt es den Thalia-Strategen, diese Produktion (wie einst Robert Wilsons Geniestreiche „The Black Rider“, „Alice“ und „Time Rocker“) weltweit reisen zu lassen, sobald das wieder möglich ist …
Zunächst erzählt Serebrennikow die Fabel. Sie steckt voller vertrauter Tschechow-Motive, hier sehr finster ausgeprägt: Kowrin, junger Schriftsteller, vorerst noch mit Pamphleten an der Universität und dem politischen Freiheitskampf des Publizisten beschäftigt und noch weit weg vom großen Roman, vom Werk, das bleibt, kehrt nach fünf Jahren auf das Gut des Ziehvaters Pessozkij zurück, der Naturfreund und Gärtner aus Leidenschaft ist und den Garten gern der Tochter Tanja hinterlassen würde, wenn möglich mit Kowrin als Schwiegersohn. Die Hochzeit findet tatsächlich auch statt, aber die Ehe scheitert schnell. Kowrin hält die spießige Enge bürgerlichen Familienlebens nicht aus und denkt sich mehr und mehr hinein in die Legenden vom „schwarzen Mönch“ – eine Vision vom Welt-Erlöser, die (und der) sich über die ganze Welt ausbreitet. Ist womöglich er selber dieser Erlöser? So wird Kowrin verrückt – und stirbt schließlich am Blutsturz.
Überbordend und hinreißend
Schon dieser erste, noch ganz sachlich erzählende Teil ist von überbordender Phantasie und mitreißender Intensität, dabei noch ganz konzentriert auf die Thalia-Kräfte Mirco Kreibich als Kowrin, Bernd Grawert als alter, Saxophon spielender Pessozkij sowie die russische Gästin Viktoria Mirochnichenko; drum-herum agiert ein hinreißend wimmelndes Kollektiv, das sich später in Sänger und Tänzer aufteilen wird. Im zweiten Teil, jetzt mit dem russisch-englisch-deutsch agierenden Odin Kiron als Kowrin, übernimmt Gabriela Maria Schmeide den Part der (mittlerweile gealterten) Tanja – als kühle, abgeklärte Kommentatorin. Deutlicher wird die Fabel jetzt von außen sichtbar.
Teil 3 lässt das junge Genie Kowrin (jetzt russisch-deutsch mit Philipp Avdejev) mehr und mehr verloren an den Kult um sich selber glauben; und an das Kollektiv der mittlerweile immer intensiv tanzenden und singenden Mönche – bevor die im vierten Teil ganz und gar Macht und Suggestion übernehmen. Jetzt ist alles Menschliche nur noch dem Tod geweiht, und auch das selbsternannte Jung-Genie ist sehr weit weg vom Erlösen oder Erlöstwerden. „Der schwarze Mönch“ selber regiert; und mit ihm weltzerstörerische Phantasie. Stets schreibt Tanja zum Schluss einen Brief und beklagt Kowrins zerstörerischen, von sich selbst besessenen Wahnsinn. Und eine Ulme im Garten des toten Pessozkij wird im Dunkel des Abends zur Vision vom „schwarzen Mönch“.
Über alle Maßen sensationell in diesen knapp drei pausenlosen Stunden ist der Zusammenklang von allem – bis zum Tanz der kreiselnden Gebetsmönche und den Klängen des Vorsängers Gurben Tsaturyan. Auch Sonnenauf- und -untergänge sind in Musik gegossen; und die Bühne (von Serebrennikow selbst entworfen) ist ein Wunderwerk für sich: drei Gewächshäuser, aus Latten gezimmert, in Reihe und versetzt verschiebbar, zum Schluss aufs Dach zu kippen; immer wieder sind diese Häuser nutzbar als Räume für das Fremde, all den Alltag, den Kowrin, das Genie, nicht erträgt in der wirklichen Welt. Vor all dem sitzen wir atemlos. Diese Aufführung reißt hin und reißt weg. Und so voll mit Bildern, Klängen und Gedanken hinterlässt sie das Publikum, dass für viele womöglich an Schlaf nicht zu denken war in dieser Nacht.