Foto: Eher laszive Verführerin als vegetatives Wesen: Cathrin Lange als Mélisande mit Giulio Avise Caselli als Pelléas. © A.T. Schaefer
Text:Detlef Brandenburg, am 16. März 2014
Zu Anfang sind schon fast alle da: Arkel, der Greis mit schütterem Haar in seiner schimmernden Hausjacke; Golaud, sein finsterer Enkel in beige-weiß-braun-großbürgerlicher Landhaus-Couture; seine Mutter Geneviève in kerzengerader Noblesse und edel fließendem Morgenmantel; und der Arzt, der eigentlich nicht hierhin, sondern erst in den fünften Akt gehört. Vor einer Chaiselongue liegt ein kobaltblaues Tuch, das aus nicht ganz erkennbarem Grund Aufmerksamkeit bekommt. Und plötzlich singt der Enkelsohn des Hauses inmitten dieses lichtdurchfluteten Gartensaals von dunklem Wald und Wildschweinjagd und von einem kleinen Mädchen am Rand eines Wassers. Man weiß nicht recht: Erinnert er sich an eine alte Geschichte? Hat ihn ein Wachtraum aus dem Saal entrückt? Leidet er an Zwangsvorstellungen?
Wir werden es auch am Ende von Yona Kims Inszenierung nicht wissen. Denn mit dieser Offenheit, die vieles möglich und nichts notwendig erscheinen lässt, schafft die koreanische Regisseurin am Theater Augsburg eine Entsprechung zur Ästhetik des Unbewussten, die Claude Debussy in seiner Maeterlinck-Oper „Pelléas et Mélisande“ auf so faszinierende Weise hat Klang werden lassen. Allerdings wird man sich am Ende auch fragen, ob hier die Entsprechung zwischen Werk und Szene nicht in bisschen zu genau ist – und damit redundant.
Erst mal erwartet die Zuschauer aber eine Überraschung: Mélisande nämlich, das Mädchen am Wasser, schneit in diesen lichten Gartensaal herein als schräges, zigarettenrauchendes Flittchen in legerem Herrenoutfit: mit Trench über dem kobaltblauen (!) Kleid, in Krawatte, Hut und mit Sonnenbrille. So könnte sie von einer etwas verrückten Party kommen, oder sie musste in Männerklamotten vor irgendwem fliehen – auch das bleibt offen. Jedenfalls nimmt sie Zuflucht bei Golaud, der von einer ganz anderen Frau geträumt hat. Und die fremde Vagabundin gibt sich anpassungswillig: In der dritten Szene sehen wir sie statt im blauen Fummel im züchtigen Faltenrock, dienstmädchenbeflissen, eine aschbraune Perücke deckt das wilde Wuschelblondhaar (was später zu einem hübsch ironischen Spiel mit Mélisandes „langen Haaren“ führt). Man ahnt früh: Das kann nicht gutgehen.
Man ahnt es auch deshalb, weil Yona Kims Inszenierung sich bereits hier im bloßen Verlängern der anfangs gezogenen Linien zu erschöpfen beginnt. Denn auch wenn aus dem düsteren Schloss Allemonde ein heller, von Kai Luczak betörend schön ausgeleuchteter Saal wird, aus der nymphenhaften Femme fragile eine halbwelthafte Femme fatale und aus dem milden Familienoberhaupt ein verknöcherter Despot, funktioniert Maeterlincks Handlung ja immer noch ganz gut. Das tut auch Yona Kims Inszenierung. Sie profiliert die Charaktere genau und zettelt gemeinsam mit der Kostümbildnerin Saskia Rettig einen anspielungsreichen Reigen des Kleiderwechsels an. Und Christian Schmidts Bühnenbild öffnet immer wieder Zwischenräume: Doppelgänger-Szenen hinter nebliger Gaze, die das Geschehen zu spiegeln oder asynchron zu konterkarieren scheinen. Aber schon bei der Anfangsszene ahnt man, dass sie am Schluss wiederkehren wird, ahnt, dass der Verfall des Saals fortschreiten, dass sich das familiäre Unglück von Generation zu Generation fortschreiben wird – und sieht es dann auf der Bühne wieder: illustrativ, ohne überraschende Abweichungen und interpretatorische Dimension.
Und man kommt ja auch nicht ganz daran vorbei, Vergleiche zu ziehen. Christian Schmidt verbindet eine jahrelange Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Guth, zusammen haben die beiden „Pelléas“ vor reichlich einem Jahr in Frankfurt inszeniert und dafür 2013 den Deutschen Theaterpreis DER FAUST bekommen. Dort sah vieles anders aus: düsterer, schauerromantischer. Wenn man Yona Kims Inszenierung als Psychothriller lesen will, dann tendierte Claus Guths Lesart zum sanften Gruselthriller. Aber das psychologisch-dramaturgische Konzept der assoziativen Offenheit war ähnlich – und in den Anspielungen auf einschlägige Genres präziser, in den aufgespannten Bedeutungsdimensionen suggestiver.
Und so blieb die wirkliche Überraschung dieser Debussy-Premiere am Theater Augsburg den musikalischen Protagonisten vorbehalten – allen voran dem Dirigenten Roland Techet, der Debussys Klangwelt mit luzider Konturenklarheit aus dem vorzüglichen Orchester aufsteigen ließ. Statt im Klangnebel zu stochern, modellierte er eine Fülle an Farben und Linien, die aber nie „strukturalistisch“ nüchtern, sondern durch einfühlsames dynamisches und agogisches Modellieren hochatmosphärisch wirkte.
Zudem hatten sowohl der Dirigent wie auch die Regisseurin in Cathrin Lange eine vorzügliche Protagonistin: eine ursprünglich vom Soubrettenfach kommende, längst darüber hinausgewachsene Sopranistin, die aber alle Tugenden von stimmlicher Agilität und klarer Fokussierung mit in die Mélisande-Partie hinübernahm und mit wunderbar weicher Kantabilität und Leuchtkraft zu verbinden wusste – und mit faszinierender schauspielerischer Präsenz. Ähnlich prägnant als Figur war der Pelléas von Giulio Alvise Caselli: ein verdrückter, schmalbrüstiger Jüngling mit ängstlich hochgezogenen Schultern, nie heimisch in dieser Familie, von der er doch nie loskommt, und in seinem gefühlten, aber nicht gelebten Außenseitertum für Mélisande eher ein Bruder im Geiste als ein gleichwertiger Geliebter. Stimmlich ist sein Bariton dieser Zwischenpartie nicht ganz gewachsen, sowohl was Höhe wie auch was Stimmkraft angeht. Er war gestalterisch präsent, aber nicht konturenklar. In dieser Hinsicht war der Golaud von Dong-Hwan Lee vorbildlich in edeldunklem Timbre: ein vokal kultivierter, darstellerisch aber nicht ganz so profilierter Finsterling. Während Vladislav Solodyagin die Verknöcherung des Königs Arkel bis in die Stimmführung durchzog – und dafür sowohl die Artikulation wie auch manches an Intonation und Phrasierung in spröder Knorrigkeit versenkte. Auch Jennifer Arnold begann als Geneviève spröde, fand dann aber auch vokal zu jener Noblesse, die sie schauspielerisch perfekt verkörperte.
Alles in allem: ein anregender, vom Publikum begeistert aufgenommener Debussy-Abend, bei dem die Musik über interpretatorische Leerstellen der ansehnlichen, aber streckenweise spannungsarmen Inszenierungen jederzeit hinwegtrug.