Foto: Szene mit Valeriy Murga und Rebeca Olvera. © Suzanne Schwiertz
Text:Frieder Reininghaus, am 14. November 2011
Anno Schreier (*1979 in Aachen) hat einen kleinformatigen Wettbewerb des Züricher Opernhauses gewonnen und erhielt den Auftrag, ein abendfüllendes Werk für die große Bühne zu schreiben. Kurz vor seinem Wechsel an die Spitze der Salzburger Festspiele demonstriert Intendant Alexander Pereira auch seine Aufgeschlossenheit gegenüber junger Kunst. Schreier legte seiner Arbeit José Saramagos Roman „Ensaio sobre a Cegueira“ zugrunde und lieferte beiläufig auch einen Kommentar zu einer virulenten Gefahr in entwickelten Demokratien. Dort wie in der neuen Oper geht um das Wegschließen von Personengruppen, von denen angeblich Gefahr ausgeht (man steckt sie z.B. in aufgelassene Bunker).
In der „Stadt der Blinden“ verlieren Menschen ohne erkennbaren Grund ihre Sehkraft – plötzlich auf der Straße oder bei alltäglichen Verrichtungen. Da nicht auszuschließen ist, daß dies auf Infektion zurückzuführen ist, isoliert man sie unverzüglich – wer flieht, wird erschossen. In der Quarantäne bildet sich statt solidarischer Selbstverwaltung eine Gefangenhierarchie heraus. Deren „starke“ Figuren verlangen im Zuge allgemeiner Verrohung Frauen gegen Essen. Die Gattin eines Augenarztes, als einzige sehend, setzt mit der Schere ein Exempel am Wortführer der Vergewaltiger. Die traumatische Erfahrung dieser blutigen Selbstjustiz veranlaßt sie dann zu einer großen Arie. Sandra Trattnigg meistert sie so souverän wie die übrigen, die ihr „auf den Leib geschrieben“ wurden.
Anno Schreier ist kein zorniger junger Mann der Neuen Musik, sondern ein eher bedächtiger Tonsetzer, der die alten Meister nicht verachtet. Er hat sie aufmerksam studiert und wendet ihre Errungenschaften wohldosiert an. Wenn textbezogene Illustration als erstrebenswertes Ideal für eine Opernkomposition angesehen wird, hat er seinen Auftrag gut gelöst – mit der Entfaltung und Schürzung beredter Orchestergesten, mit Hilfe Figuren freier Atonalität, Turba-Chor, nostalgischer Melodie. Streckenweise in a-moll, A- oder E-Dur.
Ein Team starker Stimmen hilft dem Züricher Blinden-Projekt auf die Beine – Reinhard Mayr (Augenarzt), Peter Sonn (Autodieb) und Thomas Tatzel (Taxler), Rebeca Olvera als „junge Frau mit der Brille“, die beim Liebesakt im Hotel mit der Blindheit geschlagen wurde. Zsolt Hamar dirigiert mit Gespür für die illustrierenden Effekte. Er macht damit zum Teil wett, was die Inszenierung im hermetisch grauen Geviert hinsichtlich Bedrohung und Schrecken kaum leistet. Wenn statt Stephan Mueller, einer altgedienten Kraft des Züricher Stadttheaters, ein Altersgenosse des Komponisten inszeniert hätte, wäre Saramagos Anliegen womöglich deutlicher geworden: Die Schweizerische Volkspartei und die mit ihr verknüpfte Boulevard-Zeitung „Blick“ wollen ggf. ziemlich genau das, wovor der portugiesisch-spanische Nobelpreisträger als größer innerer Gefahr für europäische Zivilisation und Gesittung warnte.