Szene mit Yitian Luan, Thomas Michael Allen James Bobby und dem Chor

Alle Lust will tanzen

Stijn Celis: Platée

Theater:Saarländisches Staatstheater, Premiere:16.01.2016Musikalische Leitung:Christopher WardKomponist(in):Jean-Philippe Rameau

Eigentlich erstaunlich, dass die Uraufführung des „Ballet bouffon“ mit dem Titel „Platée“ ihrem Schöpfer Jean-Philippe Rameau keine größeren Schwierigkeiten bereitet hat. Schließlich erklang das Werk erstmals am 31. März 1745 an jenem Ort, der das Machtzentrum des französischen Absolutismus verkörperte. An diesem Tag versammelte sich die Hofgesellschaft in Versailles, um die Hochzeit des Kronprinzen Louis, Sohn Ludwig des XV., mit der spanischen Infantin Maria Theresia zu feiern.

Die stammte wohl aus berühmtem und mächtigem Haus, ohne diesen familiären Hintergrund hätte sie es aber etwas schwerer auf dem Heiratsmarkt gehabt. Denn Zeitgenossen beschreiben die Prinzessin nicht gerade als Schönheit. Womit wir denn auch schon bei Rameaus Oper „Platée“ wären, in der es eben auch um eine eher, pardon, potthässliche Wassernymphe und eine Hochzeit geht. Die Nymphe ist niemand anderes als die Titelfigur selbst, die fest davon überzeugt ist, unwiderstehlich zu sein. Deshalb wundert sie sich auch nicht weiter, als man ihr mitteilt, Göttervater Jupiter wolle sie heiraten. Schließlich kann sie ja nicht ahnen, dass dies ein abgekartetes Spiel ist, mit dem Jupiters  rechtmäßige Gattin Juno von ihrer exzessiven Eifersucht geheilt werden soll. Am Ende lacht eine grausame Highsociety über das arme verblendete Geschöpf, das gedemütigt zurückbleibt. Eine solche Oper zu einem solchen Anlass anzubieten, zeugt zumindest vom Selbstbewusstsein des Komponisten Rameau.

Letzteres war auch durchaus begründet. Rameau hatte sich gegen das übermächtige Vorbild Lully durchsetzen können, weil er seinen ganz eigenen Weg gefunden hatte – dies zumal in „Platée“. Die Oper ist nichts weniger als eine Wegbereiterin für die französische Spielart dessen, was wir vor allem als opera buffa kennen. Die lustige Antwort also auf die tragédie lyrique. Und eine Art Gesamtkunstwerk avant la lettre. Musik, Tanz und Gesang stehen gleichberechtigt nebeneinander, wobei man Rameau ebenso zugute wie vorhalten muss, dass er das Orchester immer besonders privilegiert behandelt hat. Seine Kunst der Instrumentalisierung, der orchestralen Naturschilderung in Form von Lautmalereien, sucht ihresgleichen unter seinen Zeitgenossen. Seine Bühnenfiguren haben jedoch beispielsweise mit den Menschen aus Fleisch und Blut, wie sie wenige Jahrzehnte später Mozart erschaffen wird, noch gar nichts zu tun. Sie sind eher blutleere Schablonen und Typen.

Rameaus Musik ist noch ganz Rokoko. Immer spielerisch-galant, immer auch ein wenig frivol anmutend, und immer wieder auch einen regelrecht modernen Sound verströmend, der grooved und jazzt. Und es ist absolut bewundernswert, wie sich hier ein deutsches Stadttheaterorchester auf modernen Instrumenten auf das Abenteuer Barock einlässt. Unter der Leitung von Christopher Ward agieren die Musiker des Saarländischen Staatsorchesters absolut stilsicher, selbstredend vibratofrei und in den zahlreichen rein orchestralen Zwischenspielen mit mitreißendem Engagement. Sicher klingen Spezialensembles anders, aber die müssen dann auch nicht in der Folgewoche Puccini oder Mozart spielen, sondern können sich auf ihr Nischenangebot konzentrieren.

Ohne den darstellerisch überragenden Allen hätte diese Inszenierung des Choreographen Stijn Celis in der Ausstattung von Nicolas Musin nicht funktioniert, weshalb es auch wichtig war, dass Allen nach der Pause, als er selbst nicht mehr singen konnte und durch Ulrich Cordes ersetzt wurde, zumindest auf der Bühne agierte. Und  dies nicht nur, weil er den Mut hat, sich in einen giftgrünen Badeanzug zu zwängen, der an den entsprechenden Stellen ausgestopft ist. Nein, für ziemlich albern wirkende und den Schrecken von Karnevalssitzungen verbreitende Männerballett-Einlagen sind sich auch einige Chorsänger nicht zu schade. Allen aber macht aus der am Ende so sehr gedemütigten Nymphe eine bedauernswerte Kreatur, die unser Mitleid weckt. Das ist mehr, als jede andere Figur dieser Oper in uns wachrufen könnte.

Platée sucht die Liebe. Doch um sie herum herrscht die Lust. Die blanke Gier. Auf diesem Fleischmarkt der Begehrlichkeiten wird jeder nach seinen Äußerlichkeiten taxiert. Die Frauen zeigen bereitwillig ihre (Kunst)Brüste, Männer sind zum Teil auch nur in Nacktheit evozierenden Ganzkörperkondomen unterwegs. Die Choreographie von Stijn Celis nutzt die vielen Ballettszenen, um uns die Spielarten der Lust vor Augen zu führen. Ständig geht es um Begehren und Zurückweisen, um Eifersucht und sexuellen Überdruck; es wird viel experimentiert, von Bondage-Spielen bis hin zum lustvollen Ausleben aller Transvestie-Gelüsten.

Doch diese Gesellschaft ist grausam, liebenswert und liebesfähig ist niemand – abgesehen von der hässlichen Wassernymphe Platée, deren naiv-unschuldiger Naturzustand sie bei aller Fehleinschätzung ihres erotisches Eigenkapitals heraushebt aus dieser genusssüchtigen Gesellschaft, die ein Spiegelbild des französischen Ancien Régime ist, jener spätbarock-dekadenten Rokokogesellschaft in Versailles. Diese feiert sich in der Saarbrücker „Platée“ selbst, ohne dabei zu merken, wie sie ihrem eigenem Untergang entgegentanzt. Die Zeit ist nicht mehr fern, und die Menschen aus den Sümpfen der Gesellschaft werden aufbegehren gegen den grausamen Spott, den man mit ihren treibt.

Auch stimmlich ist es eine erstaunlich homogene Produktion, und das trotz zwölf zu besetzender Solopartien. Das Staatstheater schafft dies natürlich nicht nur mit eigenen Kräften, aber diese schlagen sich mehr als tapfer im Wettbewerb mit den Gästen. Herauszuheben wären da noch neben den bereits erwähnten Ulrich Cordes als Thespis und „eingewechselte“ Platée sowie Thomas Michael Allen die von Yitian Luan gesungene und brüllend komisch wirkende La Folie sowie der Momus von Stefan Röttig und der Mercure von Carlos Moreno Pelizari. Nicht zu vergessen: der blendend aufgelegte Chor, der zusammen mit dem Ballett des Saarländischen Staatstheaters die eigentliche Hauptrolle in diesem barocken Gesamtkunstwerk spielt, in dem Musik, Gesang und Tanz eine wunderbare Symbiose eingehen.