Foto: "Hurenkinder Schusterjungen" (UA) am Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner
Text:Volker Oesterreich, am 7. Januar 2014
Alles ist möglich, nichts verbindlich. Deshalb kann es sein, dass das Schiff Europa wie die Titanic an einen Eisberg prallt und in den Fluten versinkt. An den Bug des versunkenen Luxusliners mit seiner stählernen Reling denkt man sofort, wenn man das v-förmige Gebilde sieht, das die Bühnen- und Kostümbildnerin Wen Kan ins Studio des Nationaltheaters Mannheim für die Uraufführung von Marianna Salzmanns Dreipersonenstück „Hurenkinder Schusterjunge“ bauen ließ.
Der Schiffsbug, der eigentlich ein heruntergekommenes Wohnhaus symbolisiert, steuert auf den Sternenkreis der Europa-Flagge zu, und aus einem Kofferradio dudelt die Melodie des Schlusschors aus Beethovens Neunter, bekannt auch als Europahymne. Doch von wegen „Freude schöner Götterfunken“! Der Schlusschor mit Schillers utopischem Wunsch „Alle Menschen werden Brüder“ bleibt auch in „Hurenkinder Schusterjunge“ ein unerfüllter Traum. Das führen uns die drei Figuren des Stücks vor Augen. Zusammen mit anderen, die nur erwähnt werden, hausen sie als Wohngemeinschaft im schmuddeligen Domizil des Vermieters und WG-Genossen Tschech (Thorsten Danner).
Das Stück beginnt mit dem Einzug der 29-jährigen Ali (Anne-Marie Lux) und des 25-jährigen Buchs (Martin Aselmann). Zusammen bilden sie ein Trio, das nicht so recht weiß, was es will. Sie vergessen sich selbst in wilder Vögelei und ringkämpfender Balgerei, während außerhalb des Hauses alles aus dem Ruder läuft. Denn draußen regiert der zivile Ungehorsam. Draußen wird demonstriert und gekämpft, bis eine ominöse Staatsmacht Tränengas einsetzt und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Da werden Gliedmaßen gebrochen, und es gibt auch Tote, darunter ein Tatoo-Mädel, das zur WG-Clique gehörte.
Warum draußen der Aufstand tobt, erfährt der Zuschauer nicht. Auch wo sich alles abspielt, bleibt im Ungefähren. Das Stück könnte in der Ukraine genauso spielen wie rund um Stuttgart 21 oder in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes. Genau dort, in der unkontrolliert wuchernden 14-Millionen-Metropole am Bosporus, konnte Marianna Salzmann im vergangenen Jahr während eines Stipendiums des Goethe-Instituts für ihr Mannheimer Auftragswerk recherchieren. Istanbuler Lokalkolorit oder das dortige Konfliktpotential bleiben im Stück aber ausgeklammert.
Die 1985 in Wolgograd geborene und seit 1995 in Deutschland lebende Hausautorin des Berliner Maxim Gorki Theaters hat ihr Mannheimer Projekt als Passepartout für alle möglichen Konfliktherde konzipiert. Ihr Trio will mit dem Chaos draußen zunächst nichts zu tun haben – vermutlich, weil schon das kleine soziale Gefüge der WG chaotisch genug ist. Ali lebt ihren Sex mit Tschech und Buchs als Slapstick-Nummern aus, man spielt ein bisschen Ersatz-Familie und erprobt sich in brutalen „Fight Club“-Prügeleien – einmal so heftig, dass sich Ali unter der Gürtellinie eines Kerls verbeißt, bis dessen bestes Stück blutet.
Kontrollverlust ist das beherrschende Moment dieses Trios, das nicht zum ordentlichen Erscheinungsbild passen will. Darauf verweist der Titel „Hurenkinder Schusterjunge“ mit zwei Fachbegriffen aus der Typografie. Gemeint sind mit Hurenkindern und Schusterjungen die ersten oder letzten Zeilen von Absätzen, die regelwidrig am Seiten- oder Spaltenende beginnen bzw. am Seiten- oder Spaltenanfang enden. Auf der Bühne muss man sich natürlich keine Gedanken über das Erscheinungsbild eines Textes machen, er wird dort ja gesprochen und spielerisch interpretiert, nicht gedruckt und gelesen. Kurzum: Auf die schauspielerische Präsentation kommt es an. Das wissen die drei Darsteller ganz genau. Sie verausgaben sich 100 Minuten lang und scheinen einen Adrenalinstoß nach dem anderen zu bekommen.
Geradezu preisverdächtig agiert Anne-Marie Lux, ein Springteufel, der die ganze Palette zwischen gespielter Tristesse und akrobatischem Klamauk beherrscht. Sie ist das größte Pfund, mit dem der Regisseur Tarik Goetzke wuchern kann. Ansonsten verlässt er sich auf die vertrauten Mitteln des Trash-Theaters, zu dem in Mannheim auch kleckerndes Apfelmus und fröhliche Kopulations-Gymnastik gehören. Stilmittel, mit denen die locker-unverbindliche Szenenfolge aufgepeppt werden soll.
Zum Schluss kommt das Trio auf den Trichter, dass Apfelmus-Geklecker, Kuscheln und Kämpfen in der häuslichen Isolation nicht alles sein kann. Deshalb keimt der Wusch auf, draußen bei den Demonstrationen mitzumischen. Vielleicht ist sie ja doch noch möglich, die brüderliche Weltveränderung. Aber da beginnt eine neue Geschichte – und vielleicht auch ein neues Stück von Marianna Salzmann.
Die nächsten Vorstellungen am 8., 22. u. 24. Januar 2014