Foto: Wozzeck (Kay Stiefermann) versucht vergebens, sein Leben zusammenzuhalten. © Claudia Heysel
Text:Joachim Lange, am 2. März 2025
Im Rahmen des 33. Kurt-Weill-Fests bringt das Anhaltische Theater Dessau unter der Regie von Christiane Iven Alban Bergs „Wozzeck“ zur Premiere. Die Inszenierung stellt unter anderem die Frage, wie sich das menschliche Versagen auch auf die nächste Generation auswirken kann.
In den 100 Jahren seit seiner Berliner Uraufführung hat sich „Wozzeck“ längst als ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts etabliert. Es ist ein grandioses Stück Opernmoderne mit dem sprichwörtlichen Blick in den Abgrund Mensch. „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, so lässt das Dichtergenie Georg Büchner, (1813-1837), der von Berg so ungefragt wie instinktsicher als Librettist an seine Seite geholt wurde, das ganze Stück in den Worten seines tragischen Helden selbst auf den Punkt bringen.
In Dessau überzeugen dabei die musikalische Qualität im Graben und auf der Bühne ebenso wie die Inszenierung von Christiane Iven. Auch ihrer (nach der Dessauer „Traviata“) erst zweiten Inszenierung merkt man den Respekt der jahrelang erfolgreichen Sängerin vor der Partitur und für ihr Personal an. Sie drängelt sich nicht deutungsambitioniert vor, sondern schafft zusammen mit Guido Petzold (Bühne) und Kristina Böcher (Kostüme) vor allem einen angemessenen, atmosphärisch schlüssigen Rahmen für die Enge der Welt, die für Wozzeck keinen Raum zum Leben oder gar zum Lieben lässt.
Restlos ausgeliefert
Auch Kay Stiefermanns Wozzeck will gewiss seine Frau und auch sein Kind lieben. Er kann es aber nicht. Mit einer nie auftrumpfenden Intensität macht er, ohne sich auch nur einen Augenblick als pathologisches Opfer zu desavouieren, klar, dass er rettungslos in den Macht-Verhältnissen eingespannt ist. Sein durchsichtiger Anzug über der Unterwäsche entblößt ihn, ohne, dass er gleich ganz nackt ist. Sein kleiner Sohn ist (wie als ein deutlicher Fingerzeig in dessen Zukunft) in einem ähnlichen Look gekleidet. Der mit Uniformjacke über der langen Unterhose grotesk überzeichnete Hauptmann (großartig: Arnold Bezuyen) kann diesen Wozzeck aus bloßen Jux für dumm verkaufen. Oder er wird als Versuchskaninchen für absurde medizinische Experimente benutzt, wie von dem Doktor, für den Michael Tews um einen seriösen Mediziner-Habitus bemüht ist.
Es wird aber auch ganz direkt auf ihm herum getrampelt (bzw. sogar auf ihn uriniert), wie vor allem vom Tambourmajor, für den sich Torsten Kerl grandios stimmlich und körperlich aufplustert. Sein einziger, selbst erzwungen zurückhaltender Freund ist Andres (Christian Sturm); sein einziger Lichtblick seine Marie. Auch in dieser Rolle ist Ania Vegry ein vokales Ereignis der Extraklasse! Sie lässt ihre Marie in vokaler Referenzqualität erstrahlen, und macht dabei zugleich aber auch ihre innere Zerrissenheit deutlich.
Unwirklich düster
Wenn die zwei aufeinander zulaufenden, reliefartig strukturierten Wände, die Innenräume imaginieren, gen Schnürboden entschwinden, geben sie den Blick entweder auf eine gespenstische Waldlandschaft oder auf eine ebenso beklemmend düstere Backsteinfassade frei. Den Teich, in dem Marie endet, nachdem Wozzeck sie erstochen hat, erahnt man (vom Parkett aus nur) an den Reflexionen, die das Wasser an die Wände wirft. Der bunt kostümierte, von Sebastian Kennerknecht präzise einstudierte Opernchor schließt mit seinem Partieaufzug noch am ehesten unsere Gegenwart ein, verweist also aufs Überzeitliche.
Noch deprimierender als der Tod von Marie und Wozzeck ist die Perspektive für ihren Sohn. Der war hier stets anwesend, hat mitbekommen, wie seine Eltern gescheitert sind. Am Ende hält er das Mord-Messer in seiner Hand. Dass er und die anderen Kinder lauter Versatzstücke von Uniformen anhaben, verheißt nichts Gutes. Für Niemanden. So wird auch szenisch klar, was Markus L. Frank und die Anhaltische Philharmonie mit ihrem Changieren zwischen einer geradezu betörenden Expressivität und einem dunklen Nachhall der Spätromantik musikalisch so eindringlich gestaltet haben: Die Verzweiflung über eine Welt ohne Ausweg. Und über den Abgrund, den der Mensch darstellen kann. Der verdiente Jubel des Premierenpublikums war für alle einhellig.