Foto: Thomas Fritz Lang, Johanna Link und Jonas Pätzold in "Nibelungenleader" - Teil einer insgesamt großartigen Besetzung! © Bjørn Jansen
Text:Manfred Jahnke, am 4. Oktober 2020
Es gibt Geschichten, von denen man glaubt, sie so gut zu kennen, dass sie auserzählt zu sein scheinen. Zu diesen großen Erzählungen gehört das Nibelungenlied. Irgendwie weiß jeder um die Geschichte von Siegfried, der den Drachen tötete und sich in dessen Blut badete, um unverwundbar zu sein. Wenn dies dann nicht doch ein just herabrieselndes Lindenblatt verhindert hätte, und wenn er gegenüber seiner großen Liebe Kriemhild darüber geschwiegen hätte, was da im Ehebett ihres Bruders Gunther stattgefunden hat. Hätte, hätte, hätte… Kurz: Es ist die Geschichte eines Naivlings, der an den Intrigen der Taktiker des Hofes, insbesondere Hagens, scheitert, und sie nimmt uns noch immer gefangen. Irgendwie erinnert Hagen an Odysseus, wie er da im Hintergrund alle Helden manipuliert. Aber was bringt es, in einer Zeit diese alten Geschichten wieder auf die Bühne zu zerren, in der sich Heldentum im Widerstand gegen die Mundnasenbedeckung zu positionieren vermeint?
Es gibt Erzählungen aus alter Zeit, die zugleich nah und fremd sind und stets sich um das Grundthema Liebe und Verrat drehen. Und da birgt das Nibelungenlied reichlich Stoff: die kurze reine Liebe zwischen Siegfried und Kriemhild, die aus heutiger Sicht vergewaltigte Brünhilde, politisches Denken, das alle Beziehungen zerstört, so dass am Ende nur eines bleibt – die Rache, die wir heutigen zivilisierten Menschen doch nur noch als Missgeburt archaischer Gesellschaften verstehen wollen; und damit nichts verstehen. Von daher ist der Ansatz von Kristo Šagor im „Nibelungenleader“, das er selbst am Jungen Theater Konstanz in Szene gesetzt hat, überraschend: Er erzählt die Geschichte in ihren Abläufen so, wie sie dem Mythos eingeschrieben sind. Sicher verknappt er Handlungsstränge, aber das, was das Nibelungenlied ausmacht, kommt voll zum Ausdruck. Und das ist auch das Irritierende: Da erzählt einer „nur“ eine Geschichte, aber der Konstanzer Aufführung kann man entnehmen, wie wichtig es auch ist, „nur“ zu erzählen und dabei die Zuhörer, pardon die Zuschauer, so herauszufordern, dass sie die Geschichte, die sie zugleich als Verhandlung sehen, selbst ergänzen, selbst das archaische Momentum in gegenwärtige Erfahrung transformieren müssen.
Diese Inszenierung fordert von ihrem Publikum in jeder Sekunde Aufmerksamkeit, gedankliche Mitarbeit. Da sind sechs Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne, die zwar miteinander interagieren, aber im Gestus eines gemeinsamen Erzählens. Selbst der Bühnenraum von Christl Wein-Engel gibt nur wenig Anhaltspunkte. Hinten schließen verschieden hohe staketenhafte Wandelemente den Spielraum ab. An den Seiten liegen Holzlatten und ein Verkehrsschild. Die Spieler tragen alle Arbeitshandschuhe und laufen mit Bohrern in den Händen herum, um die Latten zu Gebilden zu montieren. Es werden etwa kleine Dreiecksräume geschaffen, in die man sich zurückziehen kann, oder es wird aus diesen allmählich ein „Turm“ gebaut, den dann Kriemhild am Ende in ihrer umgebrochenen Rache anzünden will, um alle zu töten, die an dem Attentat auf Siegfried beteiligt waren. Es brennt am Ende kein Feuer, aber es ist in meinem Kopf entstanden. Und zum Glück verzichtet der Autor auf die Komplikationen des Mythos, dass da auch noch das Kind, das Kriemhild mit Etzel zeugte, in seiner Unschuld zum Spielball tödlicher politischer Interessen wird.
Die Welt der Nibelungen ist von heute aus betrachtet eine Macho-Welt. Braucht es heute Mut, einen Macho darzustellen? Das Gehabe von Ioachim-Willhelm Zarculea als Gunther wird nur noch übertrumpft von Thomas Fritz Jung als Etzel. Beide, röhrend jovial, schaffen eine freundliche Aura um sich, die ganz schnell in todbringende Handlungen umschlagen können. Selten so gut hat man in Konstanz Jonas Pätzold als Hagen gesehen, eine Figur, die sich aus allem herauszuhalten scheint und doch im entscheidenden Moment zupackt. In seiner Darstellung wird deutlich, Siegfried muss einfach sterben, weil er in Kriemhild verliebt ist. Das gibt der Rolle eine gewisse Verbissenheit, die Pätzold ausspielt. Julian Mantaj spielt hingegen den naiven Wonnebrocken Siegfried, nicht ungebrochen, aber doch schicksalsergeben. Bineta Hansen zeigt Kriemhild ganz gegen das Rollenklischee: Da agiert keine Verhärmte, sondern eine durchaus Lebensfrohe mit hoher Selbstbeherrschung, eine emanzipierte Frau, die weiß, wie kleine Tricks eine von Männern regierte Gesellschaft ins Wanken bringen. Johanna Link als Brünhild ist umwerfend, sie ist einfach nur da, aber wie! Zeigt keine Spuren von ihrem Opferdasein, führt einfach ihre Würde als Frau vor.
Wenn sich diese Inszenierung auch einer Interpretation des Textes weitgehend verweigert (abgesehen von der Vorgabe im Titel), so entwickelt sie eine hohe Konzentration. Mit Erstaunen habe ich im Programmflyer gelesen, dass es eine Musik von Felix Rösch gegeben hat. Ich habe sie in meiner Aufmerksamkeit nicht wahrgenommen, weil der Sprechrhythmus so ausgefeilt ist, dass selbst dort, wo sich in die Sprache des Mythos der Slang eines Jugendspeaks mischt, die musikalischen Strukturen des Textes durchscheinen. Ein gelungener Abend zu Beginn der neuen Intendanz von Karin Becker in Konstanz – es ist die dritte gelungene Premiere in Folge.