Foto: Markus Hering © Tommy Hetzel
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 13. April 2025
Stefan Bachmann inszeniert Wajdi Mouawads „Die Wurzel aus Sein“ am Wiener Akademietheater mit fliegenden Rollenwechseln und vermag das langatmige Stück aus fünf parallel erzählten Familiendramen dennoch nicht auf den Punkt zu bringen.
Arrogant, genervt und zugleich mit kindlicher Schüchternheit erklärt der berühmte Maler einer Gruppe von Journalist:innen sein Triptychon über die Hl. Jungfrau Maria, das im Museum von Montreal ausgestellt werden soll. Während einer Diskussion über seine arabische Identität und das christliche Sujet sinkt er in Zeitlupe auf die Knie und beginnt laut zu hecheln. Die Zunge hängt ihm aus dem Mund, als eine Journalistin dem drolligen „Hund“ über den Kopf streicht, der sofort zubeißt. Er hatte sie zuvor gewarnt, die rote Linie nicht zu überschreiten. Steinerweichend gellt ihr Schrei, während sich die Zähne des Mannes in ihrem Unterschenkel verbeißen.
Doch ehe man es sich versieht, wird aus dem exzentrischen Künstler mittels einer grauen Wollmütze ein schüchterner Taxifahrer in Paris. Wenig später verwandelt er sich, durch die brustgeschwellte Haltung eines Machtmenschen um zehn Zentimeter gewachsen, in einen reichen Neurochirurgen in Rom, der sich eine Prostituierte aufs Hotelzimmer bestellt. Im Staatsgefängnis von Texas wartet der gleiche Mann in weißer Hose und weißem Hemd auf seine Hinrichtung – monoton automatisiert klingt die Stimme des zweifachen Mörders –, während er in Beirut erschöpft und frustriert den Kopf auf den schmalen Küchentisch legt. Soeben wurde durch eine infernale Explosion im Hafen sein Jeans-Laden zerstört. Es ist der 4. August 2020.
Fünf Talyanis
Paris, Rom, Texas, Beirut, Quebec – Talyani Wakar Malik, 52, existiert in fünf verschiedenen Versionen seiner selbst, entstanden aus der Frage: Was wäre gewesen, wenn er nicht nach Paris emigriert wäre, sondern nach Rom? Das ist das an Paul Austers Roman „4321“ erinnernde Konstruktionsprinzip von „Die Wurzel aus Sein“ des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad. Uraufgeführt 2022 am Théătre national de la Colline in Paris durch Mouawad selbst, der auch die Rollen seines Alter Ego übernahm, brachte nun Burg-Direktor Stefan Bachmann das labyrinthisch verschlungene Stück kontrafaktischer Lebensgeschichten mit einigen Strichen am Wiener Akademietheater zur deutschsprachigen Erstaufführung. Das vom Bürgerkrieg im Libanon auferlegte Exil bildet dabei die biographischen Ausgangspunkte von Mouawads fünf Talyanis. Denn wie ihr Autor flüchteten sie jeweils als Neunjährige 1978 mit den Eltern aus Beirut, um dann aber in unterschiedlichen Städten aufzuwachsen.

Journalist:innen umringen den exzentrischen Künstler: Franziska Hackl, Alexander Angeletta, Rebecca Lindauer, Elisa Plüss, Thiemo Strutzenberger. Foto: Tommy Hetzel
In einer Art filmischen Shortcut-Dramaturgie aus unzähligen, verwirrenden Szenensplittern erzählt Mouawad fünf Familiendramen als sentimentale, nicht enden wollende Telenovela mit zahlreichen Konflikten vom schwulen Outing über Sterbehilfe bis zur Tochter, die sich am herzlosen Vater rächt, indem sie unerkannt als Nutte auftritt. Vom Krieg als tragischem Ursprung unterschiedlicher Lebensläufe vermittelt sich dabei wenig. Und das Prinzip der fünf sich zusehends überlagernden Erzählstränge entwickelt weder Sinn noch Erkenntnis.
Fehlende Kontur, wenig Tiefe
Stefan Bachmann teilt Mouawads ursprünglich über 30 Figuren auf zehn Spieler:innen auf, die Talyani in fliegenden Rollen- und Kostümwechseln (Kostüme: Barbara Drosihn) wie Schatten umkreisen, ohne Kontur zu gewinnen. Auch Thiemo Strutzenbergers Darstellung des fünffachen Protagonisten erschöpft sich in zwar verschiedenen, doch manieriert zelebrierten Posen und lautstarkem Gebrüll. Lediglich Martin Reinke als sterbenskranker und dennoch verschmitzter Patriarch, Tim Werths als rätselhafter Wyoming Monroe und Lilith Häßle als verzweifelte Tochter des Neurochirurgen Talyani verleihen Mouawads Figuren ein wenig Tiefe, die Bachmann leider oft statisch an der Rampe platziert.

Thiemo Strutzenberger als Talyani Maqar Malik. Foto: Tommy Hetzel
Dabei ermöglicht Olaf Altmanns aus verschieb- und drehbaren Metallwänden bestehende Bühne, deren dunkelgraue Hammerschlag-Optik an eine Gruft erinnert, fließende Übergänge zwischen den unzähligen Szenen, die Bachmann mit den Mitteln des „armen Theaters“ inszeniert. Auch wenn die sparsam eingesetzten Requisiten Orte evozieren, Musiken oder Geräusche Atmosphären kreieren und Videobilder die reale Explosion im Hafen von Beirut zeigen: Als Theater vermögen Mouawads langatmige Familienaufstellungen nicht zu zünden.