Foto: Szene aus Peter Eötvös' "Angels in America" am Staatstheater Braunschweig © Thomas M. Jauk/Stage Picture
Text:Andreas Berger, am 2. März 2020
„Wie hältst du’s mit den Engeln?“ ist eine Frage von Gewicht in Peter Eötvös‘ Oper „Angels in America“ nach Tony Kushners gleichnamigem Schauspiel, das über Liebe und Ausgrenzung im aidsgeprüften Amerika der 80er erzählt. Der junge Prior Walter ist erkrankt und führt in seinen Fiebervisionen einen letztlich erfolgreichen Kampf gegen die Todesverheißungen der Engel. Am Staatstheater Braunschweig hat Florentine Klepper jetzt eine bildkräftige Inszenierung herausgebracht, die die Engelfrage überzeugend löst und das von Kushner und Eötvös intendierte Happyend bekräftigt. Inzwischen können Medikamente den Aids-Virus unter die Nachweisgrenze drücken.
Waren es bei der Uraufführung im Pariser Châtelet 2004 noch ziemlich schwule Engel-Phantasien mit nackten Oberkörpern, die dem Jenseits Zauber gaben, hatte sie Benedikt von Peter in der Hamburger Opera stabile weniger attraktiv als alte weiße Männer enttarnt, die auf der Bewahrung des Althergebrachten bestehen.
In Braunschweig ist der als Höhepunkt vor der Pause auftretende Verkündigungs-Engel eine apokalyptische Erscheinung: Unter Feuerbällen und stürzender Hochhauswand, die an den 11. September erinnern sollen, setzt Jelena Bankovic mit glockenreinem Sopran und präzisen Koloraturen unter einer drängenden Aufwärtsbewegung in den hohen Streichern und Xylophonklingeln extraterrestrische Spitzen. Die bisher karge Bühne von Ausstatterin Adriane Westerbarkey füllt sich mit den Resten der zerborstenen Zivilisation.
Nach der Pause bekommt Priors Todeskampf dann Dimensionen des alttestamentarischen Ringens mit dem Engel Gottes, der ein schwarzgekleideter Todesengel ist, auf dessen Himmelsleiter punkig-tuntige Neonengel von den Katastrophen aller Erdteile künden. Und trotzdem will Prior nicht lieber den Tod, schon gar nicht Untergangsprophet in ihrem Auftrag werden, wie sie ihm nahelegen. Wenn Gott richten wolle, könne er ihm dagegen vorwerfen, warum er die Welt verlassen habe. In großem Orchestergestus trumpft Christian Miedl als Prior hier mit seinem weich-voluminösen Bariton auf wie Wagners Hans Sachs. Es ist die alte Theodizee-Frage. Der Engel versenkt das apokalyptische Buch im Müllcontainer: „Wir scheitern, Erde und Engel.“ Und Prior verkündet sein neues Testament menschlichen Selbstbewusstseins. Er will noch mehr Leben, was die Musik in choralhaft voller Harmonie beglaubigt. Und Gott mit ihr?
Nach einer Generalpause jedenfalls ist der Spuk vorbei: Prior ist geheilt, als Gesegneter und als Bürger, wie er es vorher gefordert hat, kehrt er in die Welt zurück und verschwindet durchs Publikum. Damit ist die Oper bei uns angekommen. Und das Gottesgeschöpf im Glauben an die Menschheit, an Wissen und Menschlichkeit, neu gerechtfertigt.
Es ist das denkbar größte Happyend nach einem Start in urbaner Klangcollage aus Bläserstößen, Streicherflirren, klingelnder Perkussion, Sirenen und Autogeräuschen. New York, dessen Silhouette in der Braunschweiger Inszenierung am Rande der Bühne vom Erdball zu rutschen scheint, schickt die stressende Erregtheit der Moderne herüber auf den jüdischen Friedhof, wo Louis unter den Klagerufen des Rabbis seine Großmutter beerdigt. Hier gesteht ihm sein Freund Prior, dass er Aids hat. Louis wird den sterbenden Freund verlassen, flüchtet von Priors Krankenbett in den Central Park, in lustverheißende nächtliche Ungebundenheit.
Klepper inszeniert das bis zur Apokalypse als eher kargen Stationenreigen, in dem die Menschen auf weiter Ebene nach Beziehung suchen. Wenn Louis zu traurigen Saxophonen mit musicalhaft schwellendem Tenor seine Selbstbefragungen aussingt, geht das ebenso zu Herzen wie Priors verhallender Ruf, ihn nicht ins Krankenhaus zu bringen, dann käme er nie mehr zurück. Joska Lehtinen gibt Louis mit seinem schön direkten, leuchtenden Tenor Wärme. Zärtlich gerät die Annäherung an Joe, den Maximilian Krummen mit geschmeidigem Bassbariton schön vom erst etwas verduckten, verheirateten Anwalt zum Entdecker entwickelt, der zu seinen Gefühlen steht und seiner medikamentenabhängigen Frau Harper seine Homosexualität offenbart.
Milda Tubelyte bewältigt die hohen und tiefen Lagen der exzentrischen Harper klar und bezaubert in einer weiteren Rolle als Geist der Ethel Rosenberg, wenn sie mit weicher Tiefe deren jüdisches Wiegenlied singt. Und gerade, wenn man so richtig gerührt ist, weil sie es auf Bitten desjenigen Anwalts tut, der sie einst auf den Elektrischen Stuhl brachte, lacht dieser Anwalt, Roy Cohn, fürchterlich. Obwohl todkrank, ist sein Zynismus nicht erloschen. Der aidskranke Republikaner mit Cowboyhut, der mit Männern schläft, aber Schwule verachtet, wird von Kushner sarkastisch prompt dem Tod zugeführt. Rainer Mesecke singt ihn mit Basskraft, während in seinem Büro in Saxophonen und Synthesizer Telefon und Telefonstimmen vibrieren. Zhenyi Hou gibt mit rundem Alt die Mormonenmutter Joes, Rik Willebrords mit eher zartem Countertenor den Krankenpfleger.
Eötvös ist ein Meister der Instrumentierung, der dramaturgisch-atmosphärisch begleitenden Klangrede. Von verzagten Streicheransätzen à la Mahler bis zum sphärisch dämmernden Gong. Christopher Lichtenstein am Pult des hochgespannt musizierenden Staatsorchesters sorgt für präzise Koordination. Die elektronische Mischung der Stimmen und Klänge erzielt dabei den aktuellen Soundeinruck und zugleich eine flirrend-halluzinatorische Entrückung, denn zunehmend sind dieser schnellen Bildfolge mit gelegentlichen Simultanszenen unwirkliche Begegnungen eingeschrieben. Drei exzellente Vokalstimmen des NDR-Chores sorgen aus dem Graben zuweilen für geheimnisvolle Wortumspielungen. Musik und Inszenierung haben in Braunschweig eine broadwaytaugliche Zugänglichkeit. In der Premiere gab’s große Zustimmung und Bravos für eine bemerkenswerte Ensembleleistung.