Auch in der Uraufführung der ‚Musiktheaterversion‘ gibt es kein illusionistisches oder Assoziationen eröffnendes Bühnenbild. Der Raum von Philipp Bußmann ist klar und offen, begrenzt durch weiße Wände und einen beweglichen, bühnenhohen, durch Lamellen unterteilten schwarzen Rahmen. Hier inszeniert Perceval keine Figuren, sondern Körper, Stimmen und Bewegungen. So schafft er Raum für Musik und Text, der neben „Front“ auf „Homecoming“ zugreift, eine Novelle der 1953 geborenen chinesischen Autorin Can Xue über eine Frau, die ein Haus, das sie oft besucht hat, nicht mehr verlassen kann. Beide Textfelder werden erst gegeneinander gestellt, dann übereinander geschoben. Dieses Verfahren wirkt fast wie ein Destillationsprozess, der direkt auf den Titel führt. „Infinite Now“. Endloses Jetzt. Unumkehrbare Fremdbestimmung von nicht einzugrenzender Dauer. Die begründete Befürchtung von absoluter Ausweglosigkeit.
Als „nackten Zustand“ bezeichnet die israelische Komponisten Chaya Czernowin ihre dritte Oper. Ihre Musik ist so kompromisslos wie poetisch, oszilliert unablässig zwischen Aggression und Stille, sucht Haltungen, wo eigentliche keine sein können, erschüttert, wo eigentlich nicht erzählt wird. Im Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris hat sie Musik und Geräusche vorproduziert, die während der Vorstellung über ein komplexes, multiple Raumwirkungen ermöglichendes Lautsprechersystem abgespielt werden und so geradezu ein akustisches Gefängnis für den Zuschauer kreieren. Jeder der sechs Akte wird mit metallischen Schlägen eingeleitet. Danach wird gesprochen, gesungen, das Orchester spielt, oft dominiert von tonlosem Bläserhauchen, die vier Solo-Instrumente (Gitarre, E-Gitarre, zwei Celli) bekommen ihren Raum. Das Fundament des Klanges kommt jedoch vom Band(Elektronisches Sound Design: Carlo Laurenzi, mehr dazu hier), konkretisiert, abstrahiert. Im zweiten Akt scheint ein aggressives Knistern nach und nach den Zuschauerraum einzuschließen. Später regnet es akustisch Glassplitter in die Schützengräben. Immer wieder verhindert ein kaum hörbarer synthetischer Ton völlige Stille. Die Intensität ist unerhört hoch, denn der Dirigent Titus Engel macht einen phantastischen Job, als sekundengenau arbeitender Koordinator wie als vor Energie fast berstender Forderer und Förderer des musikalischen Ausdrucks.
Auf der Bühne ist, wie erwähnt, eigentlich nicht viel zu sehen. Sechs Sänger und sechs Schauspieler sind durchgängig anwesend, werden mal zu Gruppen geordnet oder stehen jeder für sich, oft als Schattenriss, bewegen sich aufeinander zu oder voneinander fort, meistens langsam, meistens mit kurzen, seltsam weichen Schritten. Selten fällt einer von ihnen hin. Dann richtet er sich, fast quälend langsam, wieder auf. Es ist fast ein Paradox, dass diese Musik und die vorzüglich gesprochenen Texte diese Mikrochoreographien zu Theater machen und so dazu führen, dass man intensiv zu- und hinhört, dass man mit Figuren leidet, die nicht nur das Mitgefühl keineswegs aktiv ansprechen, sondern die noch nicht einmal gestaltet sind. So wird der „nackte Zustand“ trotz der dominierenden Atmosphäre von Bedrohlichkeit, Depression und Hoffnungslosigkeit zu einer nie unterbrochenen Kette kostbarer Momente
Und genau an dieser Stelle ist vom Gesang zu sprechen. Anders als viele ihrer Kollegen weiß Chaya Czernowin für die singende Stimme zu schreiben. Vor allem hat diese einen Ort in ihrem musikalischen und dramatischen System. Die sechs Sänger setzen an diesem Abend Momente großer, lebendiger Schönheit. Die fantastische Altistin Noa Frenkel etwa berührt nicht nur mit ihrer musikalischen Vermittlung der Texte von Can Xue und ihrem fast schamanisch sattem Timbre, sondern vor allem mit ihren Haltungen, mit dem Erleiden, wo vielleicht gar nicht gelitten werden muss, mit dem Erzählen, wo eigentlich keine Geschichte ist. Die Sopranistin Karen Vourc’h ist allein durch ihre insistierende Präsenz immer wieder fühlender und gefühlter Mittelpunkt der Bühnenaktion, ihre gläsern schwebenden Tonkaskaden sind ein Wunder an Sinnlichkeit und Reinheit. Auch der Countertenor Terry Wey, die Mezzosopranistin Ludovica Bello, der Bariton Vincenzo Neri und der junge Bassist David Salsberry Frey nutzen ihre musikalischen Möglichkeiten für ein Plädoyer für den Menschen an sich – gegen alle Vernunft und gegen alle politischen Katastrophen.
Und der Regisseur Luk Perceval unterdrückt diese Komponente von „Infinite Now“ nicht, im Gegenteil. Am Anfang lässt er seine zwölf Akteure als Chorus Line vor dem geschlossenen Vorhang aufmarschieren. Alle sind in Schwarz-, Weiß- und Grautönen gekleidet, aber jeder trägt ein individuelles Kostüm. Jeder artikuliert den stummen Schmerz, der im ersten Akt gefordert ist, auf seine eigene Weise. Keine Uniformität, nirgends. Jeder achtet auf den anderen. Jeder lebt. Im Angesicht der Katastrophe, aber immerhin. Ein echtes Statement.
Postscriptum: Wie beschrieben, hält der Rezensent „Infinite Now“ für ein herausragendes Kunstwerk. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob – bei zweieinhalb Stunden Länge – eine Pause dem Erlebnis wirklich abträglich gewesen wäre. Und ist es sinnvoll und nötig, Weltoffenheit und europäischer Geist hin oder her, die gesprochenen Texte wirklich in den vier Originalsprachen zu projizieren? Hätte es eine Übersetzung für den nicht polyglotten Opernbesucher nicht eventuell auch getan? Kleinigkeiten, gewiss, die bei der Beurteilung der großen künstlerischen Qualität und interpretatorischen Leistung kaum ins Gewicht fallen. Aber sie sind dem Publikumserfolg abträglich. Der tröpfelnde Exodus während der Premiere legt davon Zeugnis ab. Und wäre es nicht schön, ein so wesentliches Werk möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen?