Text:Joachim Lange, am 10. Mai 2013
Für die einen ist er ein Opernkiller. Für die anderen ein Hoffnungsträger. Der 1975 in Ungarn geborene Regisseur David Marton hat bisher noch jede Oper radikal verändert, deren Stoff er sich vorgenommen hat. Exzessive Grenzgängerei ist sein Markenzeichen. Die experimentierfreudige Schauspielbühne sein Ort. In Dresden hat er das mit Wagners Rheingold so gemacht. Nicht an der Semperoper, sondern im Schauspielhaus.
Einer der Hausgötter der Dresdner Oper hat nun aber auch David Marton verändert. Weit weg, in Lyon, im derzeit interessantesten französischen Opernhaus. Ausgerechnet Richard Strauss. Ausgerechnet mit seinem Schlusswort in Sachen Oper, „Capriccio“. Diesem Konversationstück, in dem der Bajuware 1942, mitten im Krieg, mit Inbrunst die alte Frage erörtern lässt, was denn in der Oper wichtiger sei, die Musik oder das Wort. Um sie am Ende offen zu lassen. Wie die damit verwobene Liebesgeschichte. In dem noch auf Stefan Zweig zurückgehenden, dann aber von Strauss und Clemens Krauss fertig gestellten Text werben der Dichter Olivier (Lauri Vasar) und der Komponist Flamand (Lothar Odinius) um die Gunst der kunstliebenden Gräfin. 1775 auf einem Schloss in der Nähe von Paris. Deren Streit ist eine Steilvorlage für das große Credo des Theaterdirektors La Roche (Victor Von Halem), der das Theater leidenschaftlich gegen jeden Glaubensstreit verteidigt. Und als Ort für das Gesamtkunstwerk reklamiert, das mit dem Leben zu hat. Ein Statement ohne Patina.
Regisseure blenden bei diesem nur selten inszenierten Stück gewöhnlich die Entstehungszeit mit Nazi-Accessoires ein, um auf Distanz zu Strauss zu gehen. Wenn jetzt in Lyon vor dem geschlossenen Vorhang eine schlichte Glühbirne aus dem Schnürboden gelassen und dann das von Ausstatter Christian Friedländer in der Mitte halbierte Theater sichtbar wird, dann ist das allerdings keineswegs der Auftakt für ein Dekonstruktionsabenteuer, bei dem uns didaktisch ein Licht der Erkenntnis aufgehen soll. Die Überraschung kommt aus einer ganz anderen Ecke. Hier beschert uns ein sonst mit Respektlosigkeit vor der Überlieferung aufwartender Jungregisseur mit seiner ersten „richtigen“ Opernregie nicht weniger als ein Meisterstück! Und zwar sowohl mit einer hochprofessionellen, genau der Musik abgelauschten Personenführung, als auch in der subtilen Sicht auf das Werk als Ganzes. Marton nimmt die Musik und den Text so ernst und beim Wort, dass Capriccio als ein spätes Meisterwerk der Verweigerung gleichsam von innen zu leuchten beginnt. Und obendrein ohne angeklaschte Nazisymbolik das Problematische der Entstehungszeit reflektiert.
Man schaut auf die Streicher im angeschnittenen Graben auf der Bühne, die Gräfin in der Loge, den schlummernden Direktor im Parkett und den diskutierenden Dichter und Komponisten auf der Bühne, von denen sich jeder exakt wie das Spiegelbild des anderen bewegt. Damit setzt eine Faszination ein, die bis zum Schluss dieser fast zweieinhalb Stunden anhällt. Die Robe der Gräfin und ihres Bruders (Christoph Pohl) deuten aufs Ancien Régime, die der Künstler eher auf die Entstehungszeit. Während wir gebannt über die souveräne Leichtigkeit staunen, mit der hier von den Protagonisten über Kunst diskutiert und dabei die jeweils eigenen Obsessionen verfolgt werden, schleichen sich kleine Irritationen ein. Da ist die offensichtliche Leidenschaft des Haushofmeisters (Christian Oldenburg), die aber nicht weiter geht, als bis zum dezenten Öffnen der obersten Knöpfe seiner Livree, die von der Gräfin ebenso beiläufig wieder geschlossen werden. Dennoch bleibt das ein Kabinettstück tragisch verschmähter Liebe. Und da ist jener unauffällige Mann im Mantel, der auf dem stets gezückten Notizblock offenbar mehr mitschreibt, als den Protagonisten lieb sein kann. Er ist es auch, der ein paar Künstlern die Schädel vermisst und sie aussondert. Für Sekunden in einer Generalpause fällt der Paravent um, der das verbirgt. Wenn die dann als Gruppe in Mänteln durch das Flirren eines Vorhangs aus roten Glitzerstreifen langsam die Bühne verlassen, kann Marton für sich in Anspruch nehmen, mit sehr subtilen Mitteln auf etwas verwiesen zu haben, was die Nazis mit tödlicher Konsquenz praktiziert haben. Und was – ohne die tödliche Konsequenz – dem Ungarn von heute zur Schande gereicht. Und wenn die Gräfin dann im leeren Theater ihrem eigenen Spiegelbild in Gestalt jener alten Tänzerin begegnet, die vorher vertrieben wurde, und in einer allerletzten kurzen Sequenz die Logen im kalten Gegenlicht einer Welt jenseits aller Kunst aufleuchten und mit lauter Alteregos dieses Soufleurs mit dem besonderen Auftrag gefüllt sind, dann ist das zwar deutlich, aber auch so subtil und jenseits abgegriffener, auf Skandal gebürsteter Klischees, wie man es bislang kaum gesehen hat. Und der Schlusspunkt eines hinreißend gelungenen Regiedebüts, zu dessen Erfolg auch die musikalische Seite des Abend beitrug. Dirigent Bernhard Kontarsky sagte, dass man in dieser Partitur wirklich jede Note auch hört – und praktiziert genau das im Graben und mit dem kleinen Bühnenorcherster. Ohne, dass dabei die anspielungsreiche Opulenz oder der Raum für die Sänger beeinträchtigt würde. Bei denen warten vor allem die Herren mit mustergültiger Textverständlichkeit und Emily Magee als Gräfin mit überzeugend gestaltetem Verströmen auf. Viel Jubel für das Meisterwerk des alten Komponisten und das Meisterstück des jungen Regisseurs! Serge Dorny hat mal wieder Recht behalten. Aber das ist nun längst keine Überraschung mehr.