Louisa Poletti und Alessio Burani überwinden die felsige Barriere und landen mit ihren Sneakers lautlos im Sand. Sie strecken ihre Arme in die Höhe und legen sich dann genießerisch rücklings auf den Boden. Musik des zeitgenössischen deutschen Komponisten und Pianisten Nils Frahm setzt sein. Mal kontemplativ, mal aufgewühlt ekstatisch gestaltet sie in erfrischender Unterschiedlichkeit von da an den weiteren Verlauf des einstündigen Stücks mit. Bald rücken weitere Tänzer nach. Auch sie wirbeln beim Tanzen mächtig viel feinen Staub auf oder lassen den hellen Sand durch ihre Finger rieseln.
Schaut man ihrem Treiben zu, kann man sich sehnsüchtig an Sommertage am Strand erinnern oder Lust auf einen Abenteuerurlaub in einer wüstenähnlichen, zivilisationsverlassenen Gegend bekommen. Wären da nicht immer wieder Brüche, die einen am sorglosen Abtauchen in Träumereien hindern. Plötzlich regnen Plastikflaschen von der Decke. Ein Tänzer oben auf dem Fels röchelt. Flügellahm streifen seine Hände um Hals und Magen herum. Sein Würgen – so witzig es scheint – klingt entsetzlich nach einem umweltvergifteten Vogel.
Vieles versteckt sich im Detail. Auf Alessio Buranis enganliegendem Sporttrikot erkennt man ein Knochenskelett. Außerdem trägt er das Wort „fragile“ auf seiner zweiten Haut. Irgendwann stellt er sich mit seinem Namen vor und betont, er wolle nicht in Panik verfallen. Schließlich räumt er das Feld und überlässt das wilde Sich-Auslassen zu heftigem Klaviergewitter seinem Kollegen Tommaso Quartani, auf dessen Kostüm die Buchstaben „secur“ prangen.
Die Schlagworte auf den Kostümen eines jeden Tänzers zu entziffern, lenkt zwar ab, gleichzeitig verdichten sich damit aber auch die geschickt in die Produktion eingewobenen Botschaften. Die Rede ist von Liebe, Hitze, Wetter. Die längste aufgedruckte Message lautet „save your world“. Nach und nach umhüllen durchsichtige Hochwasserhosen die Beine der Tänzer und schränken deren Schrittfreiheit wie Eisklötze ein. Alle Bewegungen von der Taille aufwärts vereisen, Arme und Hände erstarren eckig krampfend in Hilflosigkeit. Lauter Hinweise und Momente, die das Publikum aus der von Ausstatter Michael Lindner geschaffenen pseudoheilen Naturidylle herausreißen sowie Aspekte von Ausbeutung und Zerstörung des Planeten Erde aufgreifen.
Zum letzten Mal vor Ausbruch der Pandemie tanzte die Kompanie am 9. März. Wenn die Tänzerinnen und Tänzer jetzt die Elementarhaftigkeit und den Wandel der Welt in seinen Auswirkungen auf die Menschheit darstellen, beeindruckt ihre tänzerische Fitness und enorme Wendigkeit auf nachgebendem Boden umso mehr. Bis auf zwei kurze Trioverkettungen zum Schluss wird dabei stets Abstand untereinander gehalten und auf Berührungen verzichtet. Klar, hier stand die Sicherheitsauflage Pate. Doch Reischl hat aus der permanenten Entfernung zwischen Partnern oder Gruppen einen choreografischen Clou gemacht. Paare füllen problemlos allein die ganze Bühne, der Rest weicht zur Seite aus oder verdrückt sich hinten in die Felsspalten. Die Anzahl der im Bühnenlicht präsenten Leute wechselt ständig. Langsamer dagegen bauen sich Veränderungen im Spannungsgefüge oder atmosphärischer Art auf.
Einem Gräberfeld aus Flaschen, in die rotblühende Zweige gesteckt werden, haftet etwas symbolhaft Poetisches an. Der Strand mutiert zum Friedhof, könnte aber auch ein gefährliches Minenfeld sein. Den Mann jedenfalls, der einen großen Stein in die Luft hievt und damit quer durch den Hürdenparcours torkelt, dirigiert die Menge mit angstvollen Rufen und Vorsichtsschreien. Die Szene gipfelt in sportlicher Beifallsbekundung.
„Sand“ ist eine Achterbahnfahrt durch (Umwelt-)Zustände. Das Wechselbad der Gefühle steigt mit der Zeit wie eine Flut. Eine Tänzerin und ein Tänzer, die langen Haare vor dem Gesicht, kreiseln über die sandige Bühne. Im gedimmten Licht lodern Flammen aus den Bildschirmen, über die zuvor blauer Himmel, dunkle Wolken, verschwommene Gestalten, ein großes Auge und ein Feuerzeug flimmerten. Schiere Katastrophe und schönste Lagerfeuerstimmung zugleich. Kurz darauf sehen wir einen ins Meer stürzenden Gletscherabbruch. Unnatürlich verformt und vor Kälte staksend verlieren sich Reischls Interpreten in eisiger Kälte.
Am Ende schaffen es die elf noch, sich und das frostige Klima wieder aufzutauen. Sie brüllen ihre Namen, formen zwei sich gegenüberstehende Gruppen und hüpfen wie Gummibälle. Als die Regie das Licht killt, liegen fast alle am Boden. Nur zwei Männer drehen sich mit einer Frau im Raum. Sie wird noch kurz im Lauf angehoben. Es ist die letzte Bewegung vor dem Stillstand in dieser schönen Arbeit. Viel zu schade, um nach der Premiere gleich wieder im Fundus zu verschwinden. Man kann dem gesamten Team nur wünschen, dass sie „Sand“ im Dezember und Januar wieder live zeigen dürfen.