Foto: Julian Sark, Hendrik Arnst und das weiße Pferd (v.l.) vor dem Showdown in „Das Massaker von Anröchte" © Theater Oberhausen
Text:Andreas Falentin, am 18. Januar 2021
1960 wurde Christoph Schlingensief in Oberhausen geboren. Bevor er sich dem Theater zuwandte, wurde er als Filmemacher bekannt, vor allem durch seine Deutschland-Trilogie („100 Jahre Adolf Hitler – die letzte Stunde im Führerbunker“ (1989), „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) und „Terror 2000“ (1992)). Der vom Theater Oberhausen produzierte Film „Das Massaker von Anröchte“, der dieser Tage als Wettbewerbsbeitrag für den Max-Ophüls-Preis 2021 seine offizielle Premiere feiert, ist als Hommage zu verstehen – an den Künstler Schlingensief, seine Filme, seine Geburtsstadt und das zwiespältige Verhältnis zur Heimat, abstrakt wie konkret – und hat darüber hinaus viel Eigenes zu bieten.
Der knapp einstündige Film beginnt stumm. Wir sehen deutsche Trostlosigkeit: Kleinstadtansicht, Kraftwerk, Strommasten. Auf einem Feldweg fliehen Menschen vor Reitern, ein wenig wie im Laienspiel. Etwas wird vom Pferd geschleudert. Ein Kopf?
Dann sind wir in einem Durchschnittshotel, fast ohne Gäste. Auftritt aus dem Taxi: Kommissar Konka (Hendrik Arnst) und Assistent Walter (Julian Sark), raumgreifend wütend und vor allem mürrisch der eine, ganz nach innen verdruckst der andere. Sie suchen die Hunnen, die mehrere Anröchter geköpft haben sollen. Was der Bürgermeister erstmal leugnet. Wegen des Fremdenverkehrs. Ein Klischee aus der deutschen Krimilandschaft.
Von denen gibt es unglaublich viele in Hannah Dörrs Film nach Wolfram Lotz‘ Drehbuch, obwohl so gut wie nichts passiert. Obwohl Konka und Walter immer an denselben, wohl größtenteils in Oberhausen gedrehten, stets abweisend und verbraucht wirkenden Häuserfronten entlang streichen. Fast ist das Frühstück, insgesamt viermal, ein Höhepunkt des Tages, für die Polizisten wie für die Zuschauer. Immer sind sie allein im Frühstücksaum, nur einmal sitzt einer am Nebentisch und köpft effektvoll ein Ei. Das ist der Autor Lotz bei seinem Cameo-Auftritt.
Alles ist grau und lakonisch, wirkt aber dadurch nicht traurig, nicht melancholisch wie etwa in den Filmen von Aki Kaurismäki, sondern fast schon aggressiv müde, mit einer verbiesterten, anti-sozialromantischen Komik, der man sich nicht entziehen kann. Und ständig stimmen Sachen nicht, ganz bewusst, sitzt etwa ein Frauenkopf auf einem Männerkörper. Oder es wird absurd. Wenn Walter mit einem Mann zusammenstößt, der ihn in die Kanalisation führt, zu Kindern mit riesigen rosa Ohren, die Tag und Nacht am Computer Menschen abschießen.
Und das Movens in all der Trostlosigkeit, der Kriminalfall? In „Dirk Gentlys holistische Detektei“ von Douglas Adams glaubt der Detektiv, dass alles immer irgendwie zusammenhängt. Also geht er auf die Straße und folgt einem Auto, dass ihn zwingend zur Lösung führt, egal welchen Falls. Kommissar Konka kürzt diesen Weg ab. Er stellt irgendwann fest, dass das begangene Verbrechen böse und sinnlos sei, also gar nicht aufgeklärt werden könne. Man müsse einfach jemanden verhaften, um ihn abzuschließen, den Fall. Und dann kommen die Polizisten an einer Kneipe vorbei, vor der ein weißes Pferd steht. Und haben die Hunnen nicht vom Pferd hinunter gemordet? Und in der Kneipe sitzt ein Mann im Hunnenkostüm und beschuldigt umgehend seinen Zwillingsbruder. Er wird überwältigt. Fertig.
Spoiler-Alarm. Sicher. Aber der Film lohnt sich jenseits jeder Finalspannung, besonders für den, der die deutsche Mittel- und Kleinstadt liebt oder hasst oder für die, die keinen deutschen Fernsehkrimi mehr ertragen kann. Denn dessen Strukturen werden hier unterlaufen und, zumindest für eine Stunde Film, gültig zerstört. Und das mithilfe trostloser Interieurs und Fassaden, deren Türen alle und immer geschlossen sind. Der Witz kommt aus den eigenen Erwartungen der Betrachtenden, das Geheimnis aus den Kleinigkeiten. Warum sitzt Konka einmal weinend unter der Dusche? Warum trägt er an der linken Hand, und nur an dieser, immer einen schwarzen Handschuh?
Das Schöne ist, dass es für alles einen Grund gibt, aber wir kennen ihn nicht. Und die Gründe, die Motivationen, die wir erwarten, die eine kleine, bürgerliche Illusion schaffen könnten, die kriegen wir nicht. Und dafür müssen wir dankbar sein.
Mit sehr wenig Geld und einem großartigen Drehbuch – beides merkt man dem Film deutlich an – ist der jungen Regisseurin Hannah Dörr hier Wunderbares gelungen. Möge eine Kinokarriere folgen!
P.S. Lieblingsszene, mittendrin: „Schauen Sie sich um“, hat Konka zu Walter gesagt und so marodiert dieser endlos schweigend durch die Stadt, begleitet von seiner virtuos poetischen inneren Stimme, die scheinbar Bekanntes originär rezitiert. Als sie die Frage stellt: „Gibt es einen Ausweg?“, befindet sich Walter neben einer Art grasbewachsenem Damm und das Ortschild von Anröchte gerät in seinen Blick, natürlich mit rotem Diagonalbalken. Und in der Ferne, vor dem grauen Himmel, stehen zwei laublose Bäume nebeneinander. Und ihre Kronen bilden eine Gemeinschaft. Hoffnung? Hingestellt oder einfach passiert? Man weiß es nicht und braucht es nicht zu wissen.