Foto: Voll von Abgrund: "Der Riss durch die Welt", hier mit Carolin Conrad, Cathrin Störmer, Oliver Stokowski, Lisa Stiegler und Benito Bause. © Sandra Then
Text:Michael Laages, am 9. November 2019
Die Apokalypse kommt; irgendeine: vom Klima ausgelöst oder vom Plastikmüll in den Meeren, als Frosch-Plage, mörderischer Hagelschlag oder kriminell-kapitalistische Brandrodung in den Regenwäldern am Amazonas. In den Köpfen jedenfalls ist all das schon präsent, und auch jeden Freitagmittag auf der Demo seit bald einem Jahr. Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat eine literarische Paraphrase zur allgegenwärtigen Endzeit- und Untergangsstimmung geschrieben; und die benennt bei der Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel in München sogar eines der elementarsten Ungleichgewichte, das dazu führt, dass die apokalyptischen Reiter derzeit quasi ungezügelt über die Gegenwart hinweg galoppieren.
Reden nämlich können beide Seiten in der zeitgenössischen Katastrophen-Debatte im Grunde nicht mehr miteinander. Warum? Das hat seit Wendezeiten zum Beispiel das haltbare Graffitto auf der Außenwand eines besetzten Hauses an der Köpenicker Straße im alten Berliner Ost-West-Grenzgebiet hinreichend beantwortet: „Der Riss durch die Welt“ (so heißt auch Schimmelpfennigs neues Stück) verlaufe „nicht zwischen Ost und West“ (oder alternativ Süd und Nord), sondern „zwischen oben und unten“. Auch ganz ohne altmarxistische Ambition übersetzt bedeutet das: So lange Menschen miteinander umgehen wie Herren mit Sklaven, und solange die ökonomische Ordnung ihnen die Möglichkeit und das Recht dazu belässt, ist kein konstruktiver und produktiver Dialog mehr möglich, auch nicht im Bemühen darum, die Katastrophen abzuwenden. Sie werden über Herrscher und Beherrschte kommen und keinen Ausweg lassen, den einen nicht und nicht den anderen.
„170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung“ heißt Schimmelpfennigs Münchner Auftragswerk im Untertitel. Und vielleicht auch deshalb lässt der Dramatiker sich wenigstens auf ein ziemlich riskantes Fazit und Finale ein: die Botschaft nämlich, dass dringlichst „ein neuer Gesellschaftsvertrag“ hermüsse. Da wird das Stück in der Schlusskurve nachgerade überdeutlich; Schimmelpfennigs Versuchsanordnung wandelt sich zur Gebrauchsanweisung, gibt jede poetische Verschlüsselung auf. So etwas ist selten im jüngeren Theater, und erstaunlich.
„Der Riss durch die Welt“ verläuft im Stück zwischen zwei Paaren – das extrem wohlhabende ist Gastgeber für das eher prekäre, zu viert treffen sich Mann und Frau mit Frau und Mann auf den lichten Höhen einer Art von Zauberberg; hier steht eine totalverglaste Luxusvilla voll von Kunst, mit einem Gästehaus nebendran. Gemeinsam, so ist Szene um Szene deutlicher zu verstehen, wollen beide Paare an der Planung einer spektakulären Kunstaktion arbeiten, die der ersten der biblischen Plagen nachempfunden sein soll – wie Gott Moses und Aron die Verwandlung des Nils in einen Fluss aus Blut ankündigt, als sie bei ihm um Hilfe bitten für die Befreiung des Volkes Israel aus ägyptischer Herrschaft, so wollen jetzt auch Kunst-Mäzen und Künstlerin so einen Fluss aus Blut (oder Müll oder Gift) fließen lassen durch irgendeine reale Welt. Je mehr aber darüber gesprochen wird, desto öfter mischen sich Alpträume ein: von Fröschen im Mund (die uns ersticken lassen), von Heuschrecken (ins Essen gebacken von der Haushälterin), von sanften Rehen, die die Menschen unversehens anzugreifen beginnen. Auch die Natur spielt mit – ein monströses Unwetter schüttet Hagelkörner groß wie Hühnereier und größer über die private Burg auf dem Berg, und alles Glas splittert.
Tilmann Köhler hat den kleinen Gesprächs- oder Nichtgesprächs-Marathon sehr kühl und abstrakt erarbeitet – auf der Bühne (wie immer bei Köhler von Karoly Risz) stehen eigentlich nur vier Stühle, so wie sie auch in den Zuschauerreihen vom Schatzkästchen unter Münchens Staatstheaterbühnen stehen, dem überwältigend barocken Cuvilliés-Theater; hinter ihnen ragt eine bewegliche Wand auf. Die sieht nach grauschwarzem Granit aus und lässt an den Ewigkeits-Obelisken in Stanley Kubricks „2001“-Film denken; vor allem aber können an dieser Wand Gläser und andere Requisiten zerschmissen werden, wo immer sie auch steht auf den Kreiswegen, die sie auf der Drehbühne nimmt. Gegen Ende, im Hagelschauer, kracht Eis und Geröll aus der Bühnenhöhe herunter.
Konzentriert bleibt das Spiel in Köhlers Inszenierung auf den Dialog zu viert – Künstlerin und Assistent (Lisa Stiegler und Benito Bause) nehmen den Kampf durchaus aggressiv auf mit dem Investor und dessen Ex-Assistentin und mittlerweile schwangerer Gattin (Carolin Conrad und Oliver Stokowski); letztere behaupten dabei immer die Macht. Wer abhängig ist von wem, bleibt immer deutlich. Aber auch dem armen Reichen, diesem modernen Jedermann-Mann, bleibt nur die Erkenntnis, dass er sich von allem Reichtum demnächst nichts mehr wird kaufen können, auch keine Kunst, nicht Künstlerin und nicht Künstler. So wirft er das Geld weg, verbrennt es und wirft das Portemonnaie an die Wand. Nicht mal das klingt so gut wie ein Glas voll Wut.
Mit der Haushälterin Maria (Cathrin Störmer) repräsentiert Schimmelpfennig die dritte (und vielleicht wichtigste) gesellschaftliche Gruppe in der Versuchsanordnung: diejenigen, die mit ihrer Hände Arbeit den Alltag überstehen jenseits von Reichtum und Kunst. Sie wird vielleicht schlussendlich alle vergiften, für die sie Essen kocht… Schimmelpfennigs Weltmodell steckt voll von Abgrund. Das starke und kompakte Stück hat als Denkspiel enorm viel Horizont und Perspektive; und noch viele Bühnen dürften auch diesen Text des erfolgreichen Autors der zeitgenössischen Überprüfung unterziehen. Denn der „Riss durch die Welt“ wird ja von Tag zu Tag tiefer.