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Abenteuer des Schauens

Luigi Nono: Intolleranza 1960

Theater:Staatstheater Augsburg, Premiere:27.09.2013Regie:Ludger EngelsMusikalische Leitung:Dirk Kaftan

Bereits der Weg ins Theater Augsburg ist das Ziel. Da gibt es keine scharfe Scheidung zwischen prosaischer Welt und hehrem Kunstwerk, eher ein Hinübergleiten in eine sehr faszinierende Erlebniswelt, die immer offen bleibt für die Gegenwart. Vieles, was an diesem Abend geschieht, entspricht keineswegs den Vorstellungen und Anweisungen des Komponisten Luigi Nono für seine Azione scenica „Intolleranza 1960“. Dieser erlebnishafte Einstieg in die Inszenierung von Ludger Engels aber kommt der Bedeutung von „Azione“, in der etwas von Action, Turbulenz mitschwingt, durchaus nahe. Auch die Durchlässigkeit für die Wirklichkeit hätte dem 1990 in Venedig gestorbenen italienischen Übervater der neuen Musik vermutlich gefallen. „Immer ist die Entstehung einer meiner Arbeiten in einer menschlichen ,Herausforderung‘ zu suchen: ein Ereignis, eine Erfahrung, eine Prüfung unseres Lebens fordert meinen Instinkt und mein Bewusstsein heraus, als Mensch und Musiker Zeugnis abzulegen.“ So gab es Luigi Nono 1962 zu Protokoll, deshalb hat er „Intolleranza“ durch die Jahreszahl „1960“ verortet. Will man dem Werk diesen unmittelbaren Zeitbezug 51 Jahre nach der Uraufführung erhalten, darf man es natürlich nicht als 60er-Jahre-Ikone inszenieren. Aus „Intolleranza 1960“ muss „Intolleranza 2013“ werden.

Der Weg ins Theater also: Draußen muss man an einem lärmenden Häuflein vorbei – ein Vorgriff auf die Demonstrationsszenen von „Intolleranza“? Nun ja. „Theater Abbild und Vorbild der Gesellschaft“ steht auf einem der Schilder; da geht es bei Nono dann doch fundamentaler zu. Hier ist allerdings nicht das Stadttheater am Werk, sondern die freie Augsburger Gruppe Bluespots Productions. Und schon mit diesem von der freien Kunst- und Theaterszene und anderen Institutionen der Stadt gestalteten Begleitprogramm unter dem schönen Protest- und Komponisten-Label No!No – ein ganzes Festival mit Aktionen, Performances, Diskussionen und Info-Angeboten vor der Aufführung, in der Pause, aber auch überall in der Stadt – legen Engels und der No!No-Projektleiter Oliver Brunner theatrale Lebensadern zwischen der „Intolleranza“-Produktion am Stadttheater und der Stadt Augsburg.

Danach führt der Weg der Besucher durch den Backstage-Trakt auf die Bühne, vorbei an Garderoben und Proberäumen, ein Labyrinth von Gängen und Klängen, bis ein Farb-bekleckstes, Neon-beflackertes, Lautsprecher-beknattertes Treppenhaus konkreten Kunstverdacht erweckt. Auf der Hinterbühne sehen sich die Besucher dann einem Tableau vivant gegenüber, umweht von Klängen des Eingangschores, der als Endlosschleife im Raum schwebt: Marianne, Symbolfigur der französischen Revolution, schwenkt die Tricolore, um sie herum ein Häuflein Mit-Revoltierender, auch ein nacktes Opfer, nachgestellt wiederum von Bluespots Productions. Damit ist ein weiteres Thema von „Intolleranza“ angesprochen: die Revolte, das Aufbegehren gegen das Falsche, in dem kein richtiges Leben möglich ist – eine Haltung, zu der Nonos Held, ein namenloser Emigrant, durch Erlebnisse von willkürlicher Verhaftung und Folter geführt wird.

Schließlich finden die Zuschauer auf Hinter- und Seitenbühne ihre Plätze, wo nach Beginn der eigentlichen Aufführung Sänger und Choristen unmittelbar vor ihnen agieren und das riesige Orchester die gesamte Hauptbühne beansprucht. Allein diese Nähe zum musikalischen Geschehen ist ein enormes theatrales Erlebnis – auch deshalb, weil man hautnah miterlebt, dass das Augsburger Stadttheater mit dieser Produktion wirklich Umwerfendes leistet. Unter dem scheidenden GMD Dirk Kaftan spielt das Orchester sensationell gut: hochdifferenziert, erschütternd schlagkräftig in den Zuspitzungen des ersten Teils, wunderbar subtil, kristallin funkelnd in den lyrisch-zarten Passagen des zweiten. Nicht minder faszinierend der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek einstudierte Chor: Inmitten noch stehender Zuschauer hebt er an, muss er seinen extrem schweren Part unter widrigen räumlichen Verhältnissen singen und macht das großartig.

Und dann die Solisten, bis auf den Emigrante allesamt aus dem Ensemble des Hauses. Ja doch – man hört ihnen an, dass ihnen Nono verzweifelt schwere Aufgaben gestellt hat. Aber mit welcher Seriosität, Hingabe und Kompetenz sie sich in diese Aufgaben stürzen, ist vorbildlich. Mathias Schulz als Emigrant gestattet sich keine Flucht in den expressiven Überdruck; er gestaltet die Partie schlank und kantabel und lässt so etwas von Nonos Referenz an den Belcanto spüren. Ähnlich einfühlsam die Compagna von Sally du Randt, mit schönen Finessen in leuchtendem Piano, während Kerstin Descher der verlassenen Frau jenen herben, geerdeten Klang gibt, den diese Figur gut verträgt.. Auch kleinere Partien, das wunderbare ätherische Sopransolo (Cathrin Lange), der Algerierer (Giulio Alvise Caselli), der Gefolterte (Vladislav Solodyagin) sind kompetent besetzt. Und die Tontechnik unter Andreas Füg balanciert diesen Klang- und Aktionsapparat mit einigen Abstrichen gut aus, wobei ihr mit Andreas Breitscheid ein hochkompetenter Spezialist für Nonos Akustik-Komplikationen zu Seite stand.

All das also geschieht ganz nah an den Zuschauern, die von den Akteuren oft appellativ angespielt werden. Das erinnert an Benedikt von Peters hochgepriesene Inszenierung in Hannover: Dort wurde das Publikum vollends hineingezogen ins szenische Geschehen, spürte Protest und Gewalt am eigenen Leib. Dennoch besteht da eine klare ästhetische Differenz: Im Augsburg sind wir nah dran, aber nicht mittendrin. Letztlich beharrt Engels auf der Trennung zwischen Gezeigtem und Zuschauer. Auch die Raumsituation machen er und sein Ausstatter Ric Schachtebeck vor allem für Schauwerte fruchtbar. Wenn der Blick von der Hinterbühne aus über die Akteure und das Orchester hinweg durch den riesigen Bühnenturm mit all seiner Technik schweift, hinter dem Portal schimmert samtrot das Parkett, das durch einen Steg überbaut ist, auf dem der afghanische Emigrant und Kalligraph Adi Sayed-Bahrami (auch er ein No!No-Aktivist) das im Libretto zitierte Gedicht „Freiheit“ von Paul Éluard malerisch interpretiert – das ist eine sinnlich betörende, zugleich aber sehr intensiv mit thematischen Assoziationen aufgeladene Perspektive. Die Augsburger „szenische Aktion“ ist ein Spektakel im wahrsten und im besten Sinne des Wortes.

Die Verwurstung des Eingangschores als Loop allerdings – das ist ein empfindlicher Eingriff in die Formanlage des Werkes. Für diese Easy-Listening-Beschallung während des Einlasses hätte sich bei klugem Nachdenken, wie es hier ja allerorten erkennbar investiert wurde, doch wohl auch anderes Material finden lassen. Und manche Aktion, auch einige Projektionen mit Augsburger Stadtansichten wirken aktionistisch übermotiviert. Die Stärke von Engels’ Inszenierung liegt darin, dass sie in ihren spektakulären Raumsituationen eine enorme Konzentration und eine kluge Balance zwischen konkreter Aktualisierung und abstrakter Überzeitlichkeit erreicht. Das aber wird vor allem in den ruhigeren Szenen spürbar.

14 Tage lang spielt das Theater Augsburg nun „Intolleranza“ in acht Aufführungen en suite, anderes wäre bei dieser Totalbeanspruchung des Theaters undenkbar. Dass die Intendantin Juliane Votteler dies möglich macht, beweist, wie ambitioniert sie den Kulturauftrag eines Stadttheaters interpretiert. Alles in allem: ein großartiger Abend und toller Leistungsbeweis eines Hauses in der bayerischen Provinz, der mit dem Jubel des Publikums belohnt wurde.

Termine:
So 29.09.13 · Di 01.10.13 · Fr 04.10.13 · Sa 05.10.13 · So 06.10.13 · Do 10.10.13 · Sa 12.10.13