Regeln hinterfragen
Erstaunlich, wie Küspert ein Thema aufgreift, das vielen Menschen – Eltern, Pädagog:innen, Sozialarbeiter:innen – auf den Nägeln brennt, aber als Thema bisher kaum im Theater für ein junges Publikum behandelt wurde: Wie bringt man ganz jungen Menschen Regeln bei? Welche Regelungen, Gesetze, etc. sind sinnvoll, welche nicht? Warum durchschauen Kinder so schnell die Sinnlosigkeit von manchen Verboten? Diese und weitere Fragen nach dem Sinn und Unsinn der Reglementierungswut jungen Menschen gegenüber verhandelt dieses „Mitmachstück“ (wenn man will: interaktives oder partizipatives Theater) auf eine Weise, die das aufgreift, wie Kinder sich die Welt aneignen: durch das Spiel.
Verblüffend, wie aus dem einfachen Spiel eine starke Wirkung entsteht. Auf einem spielbrettartigen Bühnenboden steht ein perfekt eingerichtetes Spielzimmer (Ausstattung: Nadine Hampel). In der Mitte steht ein überdimensionierter Stuhl, darauf ein großes Plüschtier, links sind fein sauber aufgeschichtet Bauklötze, rechts große Bälle und zwei mehrteilige Matten. Alles fein ordentlich geordnet, aber lässt sich damit spielen? Kein Wunder, dass – nachdem die in vier Gruppen (rot, grün, blau, gelb) eingeteilten Zuschauer:innen die Bühne zum Tanz stürmen dürfen – ein wunderbares Chaos entsteht. Da steht kein Baustein mehr auf den anderen, werden die Bälle über die Bühne geworfen, das Plüschtier herumgeschweift, bis dann jemand aus Neugierde den roten Knopf an der rechten Seite drückt. Augenblicklich kommt das Chaos zum Stillstand und die Beteiligten fordern vom spielenden Publikum ein, ihr Spiel fortführen zu dürfen.
Spiel und Dynamik auf der Bühne
Doch die entstandene Dynamik mit auf die Bühne drängenden jungen Zuschauer:innen lässt sich nicht so einfach einstellen, sie bestimmt die Aufführung weiter. Bewundernswert, wie die Regie von Ella Elia Anschein ihr Ensemble auf diese Dynamik vorbereitet hat, aber mehr noch, wie sie sich an die Anweisung der Autorin Annalena Küspert hält, die als Dramaturgin am Jungen Nationaltheater Mannheim ihr Publikum kennt: Die Spieler sollen keine Kinder spielen, sondern als Erwachsene eine Haltung zeigen, die vorführt, wie junge Menschen spielen. In der Tat gelingt in Aalen Spannendes: Die Dynamik der spielenden Kinder spiegelt sich im Spiel des Ensembles: Elias Popp, Valeria Prautsch und Larissa Wagenhals machen das gekonnt. Im Spiel bleiben sie die Erwachsenen, die das Verhalten von Kindern vorführen und zugleich doch auch Erwachsene sind, die wieder Regeln setzen. Nicht immer sinnvolle, wie beim Einlass, da soll man Schuhe und Jacken ausziehen, sich in Zweierreihen anstellen, etc. – und niemand protestiert.
Wenn das Theater Aalen Eltern und Lehrende darauf hinweist: „Popp! Stolizei!“ ist ein Mitmach-Theaterstück. Wir bitten Sie, Reaktionen der Kinder auf das Bühnengeschehen nicht zu regulieren.“, trifft es den Kern des Stücks, das im Untertitel „ein spiel mit regeln und verboten und dem, was geht und was nicht“ seine Botschaft verkündet: ein ständiges Hinterfragen. In Aalen ist nicht nur ein spannendes Stück, sondern auch eine spannende Inszenierung zu sehen.