Die Fingernägel des Autors

Krisentagebuch 8: Biting on my Fingernails

Eine neue Situation. Die neue Situation, die von der Krise und der administrativen Reaktion darauf ausgelöste, hat sich eingespielt. Ich wundere mich nicht mehr. Darüber, dass ich mich im Home Office wieder finde, dass ich als ehemaliger Freiberufler nie wieder beackern wollte, weil es jedes Privatleben zerschießt. Darüber, dass ich, wenn ich doch mal ins Büro gehe, nicht die volle S-Bahn vor meiner Haustür nehme, die jetzt nur einmal in der Stunde fährt, wenn überhaupt, sondern eine halbe Stunde laufe, um in die leere Straßenbahn steigen zu dürfen. Warum ich das mache? Angst habe ich keine, eigentlich. Weiß der Geier, was ich habe. Ein bisschen Glück schon. Und Privilegien. Ein kleines Haus zu viert. Einen kleinen Garten. In den letzten Tagen höre ich von immer mehr Seiten Geschichten von Zimmerschlachten, von Familienkriegen, von Gesprächen, die abgerissen sind, von all den kleinen und kleinsten sozialen Institutionen Familie und Wohngemeinschaft hier und da und überall, die von der aktuellen Situation zerbröselt werden, in unterschiedlichem Tempo, aber unerbittlich. Bei uns ist noch alles in Ordnung. Oder?

Die neue Fake-Normalität umgibt mich wie ein Kokon. Man kommt nicht mehr unter Menschen und kann sich und andere mit nichts mehr vergleichen. Ich spüre, wie ich abstumpfe. Die Gewöhnung, die neue Gewohnheit, sediert. Telefonieren ist, oft gesagt in diesen Tagen, nicht das Gleiche wie sich ansehen und beieinander sein, Mail oder WhatsApp gleich gar nicht. Die Tage haben viel Arbeit und kaum Struktur. Wesentliches Kontinuum: Tägliches Starren auf die Zahlen des Robert-Koch-Institut, tägliches Zur-Kenntnis-Nehmen der Äußerungen von Deutschlands vier Virologen. Mehr scheint es, laut Medienlandschaft, nicht zu geben.

Seit einigen Tagen allerdings macht das Starren Hoffnung. Die Anzahl der Neuinfizierten in Deutschland sinkt ja zügig. Darf man denn wirklich hoffen? Oder ist das nicht opportun, nicht konsensfähig? Die Theater können sich darum nicht scheren. Sie hoffen natürlich. Sie müssen spielen. Wenn der Saisonrest ausfällt, müssen die Städte, die Länder, der Bund einspringen. Aber ob sie es tun werden? Gerade, wenn auch die Sommerfestivals ausfallen, die so wichtig sind, für das ökonomische Gleichgewicht etlicher Theater wie für die Publikumsbindung. Wenn es so weiter geht, haben wir bald unter 2000 Neuinfizierte täglich. Und dann? Ein Freund von mir, auf dessen Meinung ich sonst viel gebe, sagt, da gebe es Teams in Berlin, die seit Wochen alle Szenarien durchspielen und für alle Gegebenheiten den passenden Plan haben. Ich glaube ihm nicht. Ich glaube ausnahmsweise, was die Politiker sagen. Und sie sagen, sie werden nach Ostern darüber nachdenken und dann ihre Gedanken diskutieren.

Und die Theater bleiben zu. Wohl auf Sicht. Weil zuerst die Schulen und Kindergärten drankommen, dann die kleinen, dann die großen Geschäfte und irgendwann vielleicht Hotel, Gastronomie, Sport. Und ganz am Ende die „nicht systemrelevante“ Kultur? Können Sie sich ein System ohne Kultur feststellen?

Nirgend ein Jubel und nirgend ein Wimpel“, die Zeile von Conrad Ferdinand Meyer fällt mir ein und, sozusagen popkultureller: „Es soll wieder Tag werden!“. Das sagt der Zwerg Gimli im Mittelteil von „Der Herr der Ringe“ jedes Mal, wenn er einen Ork köpft. Natürlich köpft er viele und er sagt es auf zwergisch, was ich natürlich – wir wissen ja alle so wenig! – nicht verstehe. Ich hülle mich in Worte wie in einen alten, warmen Mantel. Andere Schutzkleidung habe ich nicht. Und will ich nicht. „Und immer weht der Wind, und immer wieder vernehmen wir und reden viele Worte und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.“ Hofmannsthal hat Recht. Ausgerechnet der Körper bleibt uns. Lecker kochen, essen, trinken und so. Zunehmen gegen die Krise.

Aber es ist doch bald vorbei, oder? Dann kann ich wieder regelmäßig ins Büro und meinen Kollegen face to face begegnen, Menschen anfassen und von Ihnen angefasst werden… oder doch erst nächstes Jahr wieder? Keine Premieren mehr? Kein Sommerurlaub? Das klingt wirklich wie: nie wieder. Aber so schlimm kann es doch nicht sein. Gestern waren es nur noch 4000 Neuinfizierte. Bei einem Volk von 80 Millionen Menschen.

Es muss aufhören. Bald. Es wird. Der Ethikrat ruft schon zur Diskussion auf, die wir von alleine nicht führen. Weil wir gerade keine Versammlungsräume haben und mit Arbeiten, Abstumpfen und Hoffen ausgelastet sind. Hoffen und Harren hält bekanntlich manchen zum Narren. Was eigentlich nicht schlimm ist, es darf nur nicht chronisch werden. Ich muss mich also an der Sonne freuen, auf meinem Weg übers Feld zur Straßenbahn. Dabei denke ich nach über diese Geschichte mit der Solidarität, die ja eigentlich etwas Freiwilliges ist – und ein gesellschaftliches Ideal. Und das kann man ja eigentlich per definitionem nicht erreichen. Bleibt nur, der Wort-Mantel wärmt mich wirklich, mein Lieblingszitat, Zeile 14 aus Rilkes Sonett „Archaischer Torso Apolls“. Über 13 Verse wird ein antikes Statuenfragment beschrieben, sprachlich auf höchstem Niveau umspielt. Dann, ansatzlos: „Du musst dein Leben ändern.“ Stimmt absolut. Aber wie?