Szene aus Finn-Ole Heinrichs Stück „Frerk, Du Zwerg!“, das die Regisseurin Katrin Ötting zusammen mit Kindern und Jugendlichen des Spielclubs am Theater Lübeck am 15. Oktober für Kinder ab 6 Jahren herausbringt. Gerade unter Kindern und Jugendlichen ist die Inzidenz derzeit besonders hoch.

Krisentagebuch 35 – Durchwurschteln als Dauerstrategie?

Stimmt es eigentlich, dass ein wesentlicher Faktor zum Überleben einer Zivilisation ihre Lern- und Anpassungsfähigkeit ist? Hoffentlich nicht! Denn sonst sähe es um die Zukunft unserer Bundesrepublik, die sich so gern als Vorzeigestaat im mehr oder minder geeinten Europa sieht, ziemlich düster aus. Wir trudeln gerade in den zweiten Epidemie-Herbst ante Virus natum hinein und benehmen uns wie im Frühling der Pandemie. Erneut sieht sich der geneigte Kunde von Geschäften, Freizeiteinrichtungen oder Urlaubsangeboten einem bizarren Wirrwarr unterschiedlicher Regeln gegenüber, die noch nicht einmal in ein und derselben Stadt einheitlich, geschweige denn durchschaubar sind. 2G oder 3G? Kommt drauf an, wo man wohnt. Schachbrettmuster oder volle Auslastung im Theater? Kommt drauf an, wo man hingeht. Testpflicht für Geimpfte? Jahaa – aber welcher Test denn nun eigentlich: der ziemlich unsichere Schnelltest oder der teurere und langsamere, aber wesentlich sicherere PCR-Test?

Dass in dieser eigentlich doch wirklich hoffnungsvollen Situation, wo uns die Impfstoffe eine Zukunft einer in Grenzen beherrschbaren Pandemie und einer Öffnung unter vernünftigen Parametern verheißen – dass also in diesem zweiten Herbst nach anderthalb Jahren Pandemie-Erfahrung dieselbe schlampige politische Corona-Wurschtelei weitergeht, das trägt schon Züge von Staatsversagen (und liegt damit auf einer Linie mit dem Afghanistan-Desaster). Das kann man feststellen, darüber kann man jammern. Aber da nun mal weit und breit kein Krisenmanager von der Klarsicht, Tatkraft und Verantwortungsbereitschaft etwa eines Helmut Schmidt oder Hans-Dietrich Genscher in Sicht ist, wird Jammern nicht helfen. Besser wäre es, in dem Rahmen, in dem man das jeweils kann, sich selbst zu helfen. Doch auch gemessen an dieser bescheidenen Zielvorstellung machen die Theater derzeit nicht gerade eine blendende Figur. Und das ist schade. Denn sie haben gegenüber Corona doch schon mehrfach glänzende Haltungsnoten erreicht.

Schon sehr bald nach Ausbruch der Krise haben die Bühnen auf eigene Faust oder auch gemeinsam mit den Kulturpolitikern und den Behörden ihrer Stadt Hygiene-Konzepte entwickelt, die selbst die skeptischen Virologen überzeugt haben. Und der (wenn auch kurze) Spielbetrieb im Herbst 2020 oder die Erfahrungen der letztjährigen Salzburger Festspiele haben gezeigt, dass mit diesen Konzepten das Infektionsrisiko beherrschbar ist. Heute, ein Jahr später, wäre es sogar noch viel besser beherrschbar. Denn nun hilft auch die Impfquote der Kultur. Dennoch: Risiko und Unsicherheit sind noch immer groß. Die Herdenimmunität ist weit entfernt. Immer besser wird erkennbar, dass die Delta-Variante eben doch eine Reihe von „Durchbruchs-Infektionen“ bei doppelt Geimpften zu verursachen vermag. Wie erfolgreich sich womöglich andere, neue Mutationen am Impfschutz vorbeimogeln werden, wissen wir noch lange nicht. Was wir aber sehr wohl wissen: Eine zu große Lockerung der Infektionshygiene bei einer nur teilgeimpften Bevölkerung ist das ideale Biotop für solche Mutationen.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer zu verstehen, dass einige Theater die wirklich großartigen Hygienekonzepte, die sie gemeinsam mit anderen ausgetüftelt haben, gerade wieder (zumindest teilweise) über Bord werfen. Und das ist keineswegs eine rein infektionshygienische Frage, sondern auch eine der Fürsorge gegenüber dem Publikum. Denn auch viele der in ihrer Mehrheit nicht eben juvenilen Theaterbesucher dürften angesichts dieser Lage verunsichert sein. Wenn es gar beim Spielbetrieb ohne Abstandsregeln zu neuen Infektionen in Zuschauerraum käme, würde sich die Angst vorm vollen Theater sogar noch verstärken. Und selbst wenn man solche Horrorszenarien für zu weit hergeholt hält – allein schon die Uneinheitlichkeit der Hygieneregeln im selben Bundesland, teils gar in derselben Stadt dürfte geeignet sein, die Menschen zu irritieren.

Allerdings – auch das gehört zur Wahrheit: Die Theater haben zwar de jure das Hausrecht und können also Zugangsbeschränkungen erlassen. Ein Haus aber, das beispielsweise an der Schachbrett-Ordnung im Parkett festhalten wollte, bräuchte dazu auch die Rückendeckung des Kulturdezernenten und des Kämmerers. Denn spätestens wenn es um die Erstattung der Einnahme-Ausfälle angeht, ist es auf deren Solidarität angewiesen. Noch heikler ist die Situation bei den Privattheatern, die in ganz anderer Weise als die Konkurrenz in öffentlicher Trägerschaft auf Einnahmen aus dem Kartenverkauf angewiesen sind. Und was ist eigentlich mit dem Kinder- und Jugendtheater? Hier, wo es noch kaum eine nennenswerte Impfquote gibt, liegen die Inzidenzzahlen in einigen Städten bereits im hohen dreistelligen Bereich, in NRW zwischen 200 und 500. Ist Sitzen ohne Abstand da überhaupt zu verantworten?

Allzu oft wurden diese und andere Probleme (zum Beispiel die Frage: Wie probt man, wenn ein oder zwei im Ensemble die Impfung verweigern?) von der „Es geht wieder los!“-Freude der Häuser überschattet. Sie müssen aber diskutiert werden, mit Politikern, Virologen und Theaterfachleuten – mit dem Ziel, möglichst einheitliche Regeln für den Betrieb der Theater vor und hinter der Bühne und die dazu nötige Finanzierung zu erreichen. Genauer: Sie hätten schon längst diskutiert werden müssen! Aber wenn man dann mal über den eigenen Tellerrand auf die völlige Orientierungslosigkeit schaut, mit der die Politik die Schüler ins neue Schuljahr starten ließ, dann wundert einen in der Hinsicht überhaupt nichts mehr.

Apropos: Diskutiert werden sollte auch mit dem Publikum. Warum nicht die Zuschauer befragen, ob sie sich wieder sicher im Theater fühlen? Was sie von Theatern zur Wahrung ihrer Unversehrtheit erwarten? Oder die Besucher einfach mal im Haus ansprechen, so wie das etliche Intendanten in den letzten Wochen schon auf sehr wohltuende und auch durchaus erfolgreiche Weise tatsächlich gemacht haben. Die Verlautbarungen vieler Theater zum Start nach Corona waren vielerorts auch getragen von der Erwartung, dass die Zuschauer reihum Purzelbäume schlagen vor lauter Öffnungs-Freude. Stimmt das eigentlich? Stürmen sie die Theater? Oder fühlen sich etliche von ihnen inzwischen mit Netflix daheim auf dem Sofa auch ganz wohl? Und vor allem viel sicherer? Wie auch die Gesellschaft insgesamt, so ist das postpandemische Publikum ein Stück weit ein unbekanntes Wesen. Jetzt müssen sich die Theater bemühen, es neu kennen zu lernen – und Sorge tragen, dass es dabei keine unangenehmen Überraschungen gibt.