Der frisch umgebaute Theatertruck des Nationaltheaters Mannheim

Krisentagebuch 33 – Ausgebremst

Jetzt ist es geschehen. Der deutsche Bundesrat hat das um die sogenannte „Notbremse“ erweiterte Infektionsschutzgesetz gebilligt. Einwände gab es viele. Rainer Haseloff (CDU) kritisierte die Kompetenzverlagerung von den Ländern zum Bund hin scharf, Bodo Ramelow (Die Linke) zweifelt an der Umsetzbarkeit, Volker Bouffier (CDU) stellt infrage, dass die im Gesetz enthaltene Ausgangssperre verfassungskonform ist. Durchgewunken wurde das Gesetz gleichwohl.

So leben wir jetzt unter einem bundeseinheitlichen Maßnahmen-Flickenteppich. Klar ist dennoch wenig. Bei einer Inzidenzzahl von 165 wechseln die Schulen in Distanzunterricht, wenn es denn so kommt, auch mitten in der Woche. Wie soll da konzeptionell Wissensvermittlung stattfinden? Bei einem Wert von über 100 gilt eine Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zu dieser Uhrzeit das letzte Mal auf der Straße war, aber würde ich joggen, dürfte ich das weiterhin zumindest bis Mitternacht tun. Meinen Hund ausführen oder meine Katze suchen dürfte ich die ganze Nacht lang. In fast jedem Bereich gibt es Ausnahmen, Nivellierungen, Differenzierungen.

Ausnahme hier, Sie wissen es: die Kultur. Hier gibt es nicht einmal die vom Deutschen Bühnenverein sinnvoller- und notwendigerweise geforderte Differenzierung zwischen Innen- und Außenveranstaltungen. Es gibt überhaupt keine Differenzierungen, nur die Inzidenzgrenze 100. Damit ist die Spielzeit für die allermeisten Theater faktisch beendet. Denn selbst, wenn sich die in Nachrichtensendungen mittlerweile oft mit pseudo-sakralem Bibber in der Stimme vorgetragene Inzidenzzahl mal unter die 100er-Grenze bewegt, muss sie fünf Tage dort bleiben – und sobald sie danach drei Tage in Folge „über den Strich“ gerät, greift die Bremse wieder. Wie kann ein Theater unter diesen Bedingungen einen Spielbetrieb organisieren, draußen, drinnen, wo auch immer?

Dabei gibt es viele Projekte und Initiativen der Theater, die der aktuellen Situation Rechnung tragen, originelle Strategien, wie man ein Live-Publikum erreichen kann, ohne dieses oder die Künstlerinnen und Künstler zu gefährden. Das Nationaltheater Mannheim etwa hat einen 7,5-Tonner zum „Theatertruck“ (siehe Foto) umgebaut, um damit auf Plätzen in der Stadt und im Umland vor die Abstandsregeln einhaltendem Open-Air-Publikum Shakespeare zu spielen. Da wäre das Ansteckungsrisiko anerkanntermaßen niedrig. Was den Mannheimern aber, bei einer aktuellen 7-Tage-Inzidenz von 196,7 auf absehbare Zeit nichts hilft. Die monatelange Anstrengung eines ganzen Hauses: umsonst. Mehrere solcher tollen Projekte ließen sich aufzählen.

Natürlich erwischt es auch fast alle der meistens seriös angegangenen kulturellen Modellprojekte, teilweise aus paradoxen Gründen. Der bundesweite Vorreiter etwa, die Stadt Tübingen, muss, wie Bürgermeister Boris Palmer heute auf Facebook verlautbarte, seine Öffnung auch der kulturellen Institutionen beenden, weil die Inzidenz im Landkreis zu hoch ist. In Tübingen selber ist sie momentan deutlich nicht dreistellig.

Die „Notbremse“, bei deren Justierung die Kultur offenbar keine Rolle spielte, was einen vielleicht noch größeren Affront darstellt als die Gleichsetzung mit Spielhallen und Bordellen im November, diese für den Kulturbereich viel zu starre „Notbremse“ nimmt den Theatern nicht nur mittelfristig jede Perspektive und beendet bei den meisten faktisch die Spielzeit. Sie frisst auch jede Menge Energie und Motivation, weil die Politik der Kultur mit dieser Setzung nicht nur keinen Respekt zollt, sondern sich weigert, ihr die Bedeutung für den sozialen Frieden, die gesellschaftliche Entwicklung und Wohlfahrt zuzuerkennen, die ihr zukommt. Von den vielen Menschen, die kreativ an kulturellen Projekten und Prozessen arbeiten, ohne festangestellt zu sein, ganz zu schweigen. Sie kommen, genau wie die großen und kleinen Kulturinstitutionen, im Spitzenpolitikerdenken unserer Tage offenbar ausschließlich als Kostenfaktor vor, als lediglich wirtschaftliche Verantwortung, der man sich – immerhin – nicht entziehen will.

Was bleibt, ist Leere. Und das ist, wenn man beruflich in der Kultur verankert ist, sicher einer der schlimmsten aller denkbaren Zustände.