Theater ohne Zuschauer - Tatjana Ivschinas "Rusalka"-Bühne und der leere Zuschauerraum des Theaters Krefeld

Krisentagebuch 3: Entzugserscheinungen

Das Gute: die ruhigen Abende im Kreise der vierköpfigen Familie, die es normalerweise nie gibt, weil immer mindestens einer, oft ich, unterwegs ist. Spielen, reden, etwas gemeinsam ansehen. Aber etwas stimmt nicht. Macht mich unruhig. Fast schmerzhaft. Vor allem fühle ich mich seltsam unerfüllt.

Die Lösung ist natürlich einfach: Mir fehlt das Theater. Seit mindestens zehn Jahren gehe ich, vom Sommerurlaubsmonat abgesehen, im Schnitt fünf- bis sechsmal monatlich hin und mache das, was ich am liebsten tue und, glaube ich, sehr gut kann: Zuschauen. Seit einigen Jahren sogar beruflich. Das Theater finanziert meinen Lebensunterhalt, es regt mich an, stärkt mich, hält mich wach, wird mir nie langweilig. Eine Stütze im Leben, an die ich mich gewöhnt habe und die mir jetzt furchtbar fehlt. Ich habe förmlich Entzugserscheinungen.

Was jetzt passiert ist, wollte ich am Anfang nicht wahrhaben, ich habe mich sogar ziemlich im Ton vergriffen bei der Kommentierung zu den Schließungen der Bühnen, fast wie ein enttäuschter Liebhaber. Jetzt sind alle Theater zu. Das ist Tatsache und vor allem Konsens. Und  die Bühnen verlagern ihre Aktivitäten notgedrungen in die digitale Welt. Obwohl das Theater doch eigentlich „ein analoger Dinosaurier und Paradiesvogel“ ist, wie der Dramatiker Roland Schimmelpfennig am Samstag, 21.3. in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat, „gleichzeitig charmant, ruppig, schlecht erzogen, eitel, manchmal aufgeblasen und hohl, bisweilen aber auch erschreckend aufrichtig und ehrlich und notwendig, in seiner grundsätzlichen Anlage very old school, oft aber auch maßgeblich beteiligt an der permanenten Weiterfindung der Moderne.“

Roland Schimmelpfennig beschreibt  da genau mein Theater, das, das immer live ist, meistens Kunst, immer Kommunikation, immer sozialer Raum in Echtzeit. Schon jetzt macht das Nichtstattfinden von Theater vielen Menschen klar, was fehlt. Dass es sich hier keinesfalls um ein verzichtbares Luxusgut handelt. Auch, oder gerade, weil die großen und kleinen Bühnen und Theaterhäuser sich in dieser Krise als Kraftwerke der Kreativität erweisen und bewähren. Einige, wie die Bühnen Krefeld und Mönchengladbach (auf dem Foto das von Andreas Bischof fotografierte Bühnenbild von Tatjana Ivschina zu „Rusalka“am Theater Krefeld) haben noch Premieren fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit herausgebracht und zum Streaming angeboten, auch um für sich eine Zäsur zu schaffen, die Katastrophe aushalten zu können, ihr eine Illusion von Disponierbarkeit zu verpassen, von der aus sie sich leichter ertragen lässt.  Jetzt häufen sich seit Tagen vielfältigste Streaming-Angebote aus nahezu jedem Haus.

Da gibt es (fast) alles, von historischen Großtaten wie Inszenierungen von Stein und Grüber an der Schaubühne über Puppenspielvideos mit der ganzen Familie des jeweiligen Puppenspieles, großflächige Konzerte und Kleinst-Improvisationen bis zu einem gewaltigen Filmprojekt des Theaters Oberhausen: Da geht der Regisseur Bert Zander Camus‘ „Die Pest“ an, als Theaterfilm „mit größtmöglichem Abstand“ und „unter Einhaltung des Kontaktverbotes“, aber unter Einbeziehung Oberhausener Bürgerinnen und Bürger. Vieles von all dem wird von Menschen produziert, die ihre Kreativität weiter zur Verfügung stellen, obwohl sie im Moment nicht wissen, wie sie daraus ihren Lebensunterhalt bestreiten können, manche nicht mal, wie sie ab April die Miete zahlen sollen. Wir alle müssen an sie denken und etwas tun, dass sie dem sozialen Raum Theater erhalten bleiben, dessen stärkste Säulen sie sind.

Und dann, als sei das Ende der Katastrophe schon fast sichtbar, recken gar nicht so wenige Theater,  tief getroffen, aber nach außen unbeeindruckt, ihre Nase in den Wind und kündigen das Weitermachen an. So hat gestern die Komische Oper in Berlin ihr Programm für die Saison 2020/2021 vorgestellt, mit neun Premieren und folgendem Schlusswort des Intendanten Barrie Kosky: „Die Show muss weitergehen! – Das gilt im Theater als ein fast ehernes Gesetz. Im Augenblick jedoch ist genau das unmöglich. Aber wir können uns mit all unserer Kraft zurufen: Die Show wird weitergehen!“

Es wird so sein. Natürlich. Wann auch immer. Und das Theater wird verändert sein. Wie alles drumherum auch. Natürlich?