Symbole der Infektionshygiene am Theater Mageburg

Krisentagebuch 25 – Das Versagen der Kulturpolitik

Ein wichtiger Faktor für das Überleben einer Gesellschaft – und übrigens auch für die Beurteilung ihrer Intelligenz – ist die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen. Wenn es danach geht, dann stellt der Umgang mit der Kultur in Zeiten der Krise sowohl seitens der deutschen Corona-Politik im Allgemeinen wie auch seitens der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Besonderen der deutschen Gesellschaft ein besorgniserregendes Zeugnis aus. Es geht wieder genauso drunter und drüber wie zu Beginn der Pandemie: Wieder ein babylonisches föderalistisches Wirrwarr der Bestimmungen, wieder wird dabei alles über einen Kamm geschert, wieder wird die spezifische gesellschaftliche Bedeutung der Kultur vollkommen ignoriert, und wieder ist es die kollektive Kulturform des Theaters, die von der Politik mit einer bemerkenswerten Kaltschnäuzigkeit behandelt wird. Zum Ausdruck des Ärgers über einen hartnäckig  fortbestehenden und gleichbleibend ärgerlichen Sachverhalt gibt es ja die schöne Formulierung: „Also dazu fällt mir nichts mehr ein!“ Das könnte ich jetzt leider auch sagen – denn im Grunde müsste ich zur Beurteilung der aktuellen Situation nur auf meine Krisentagebücher aus den Monaten April und Mai verlinken. Sogar die Namen stimmen noch.

Wieder glänzt Armin Laschet mit seiner NRW-Landesregierung durch ein haarsträubendes Stop-and-go in Sachen Corona-Regeln. Sie erinnern sich noch? Armin Laschet war es, der (als Mitgesellschafter der Kultur Ruhr GmbH) schon zu Beginn der Krise das Stoppschild aufgestellt hatte, das die Intendantin Stefanie Carp daran hinderte, mit der Ruhrtriennale ein coronakompatibles Festivalformat zu entwickeln. Das blieb den Salzburger Festspielen vorbehalten, mit weltweit höchster Anerkennung für vitale Großvorstellungen vor Großauditorien in Schachbrett-Sitzordnung, ohne dass irgendeine von dort ausgehende Infektionskette zu verzeichnen gewesen wäre. Lange vor Salzburg aber, kaum dass sich erste Erfolge bei der Bekämpfung des Virus abzeichneten, trompetete Laschet schon wieder die große Öffnung – für Theater, die überwiegend in der Verantwortung der Kommunen angesiedelt sind. Wenig später wurden unter bestimmten Bedingungen sogar volle Säle wieder erlaubt. Gott sei Dank hat davon aber kaum ein Theater Gebrauch gemacht, denn das hätte das Vertrauen des Publikums untergraben. Das aber untergräbt jetzt die Landesregierung. Denn wieder hat sie nun bei Eintreten der Risikostufe 2 (Inzidenzwert über 50 Fälle pro 100.000 Einwohner, was inzwischen für fast alle größeren NRW-Städte gilt) pauschal eine Besetzungsgrenze von 20 Prozent verfügt, die für Vereinsversammlungen genauso gilt wie für Theatervorstellungen. Die wurde zwar wieder aufgehoben (jedenfalls habe ich sie in der neusten Corona-Schutzverordnung nicht mehr finden können). Aber die Verunsicherung bleibt, ebenso der 1,5-Meter-Abstand und eine Obergrenze von 250 Personen; auf dem Platz gilt Maskenpflicht für die komplette Vorstellung, vom Schachbrettmuster ist keine Rede mehr.

Es ist völlig unstrittig, dass auch die Kultur sich an Regeln halten muss. Und wenn eine Regierung der Meinung ist, diese Regel müssten streng sein, dann ist das so. In Bayern sind die Regeln streng. Aber darauf kann man sich seit Monaten verlassen und folglich einstellen. Andernorts aber, und eben besonders krass in NRW, herrscht ein wirres Hin und Her, das die Theater extrem schädigt und das Publikum verunsichert. Durch den kurz getakteten Aktionismus entsteht ja der Eindruck, der Staat müsse seine Bürger permanent vor dem Theaterbesuch schützen. Genau das hören die Theatermacher inzwischen auch von den Zuschauern, die mehr und mehr wegbleiben. Das ist das wirkliche Trauerspiel unserer Tage. Und wieder, wie schon im Frühjahr und Frühsommer, ist in diesem Herbst des kulturellen Missvergnügens die Stimme der Kulturpolitik kaum hörbar – da fragt man sich wirklich, ob es noch Kulturpolitiker in Deutschland gibt. Dass jetzt die Theater auf die Barrikaden gehen und mit ihnen der Deutsche Bühnenverein, ist nur zu verständlich. Auch das wird von der Politik geflissentlich ignoriert.

Gerade redet alle Welt vom wirtschaftlichen Schaden durch Corona. Aber auch der kulturelle Flurschaden, den diese Pandemie anrichtet, ist unermesslich. Dabei geht es nicht nur um die materiellen Verluste für die Betriebe, nicht nur um die Existenzbedrohung für die selbständigen Künstler, sondern auch um eine empfindliche Störung im Verhältnis zwischen Theater und Publikum. Was bleibt, ist erneut das schale Gefühl der Enttäuschung über die mangelnde Wertschätzung der Kultur.

Systemrelevanz war schon immer eine törichte Begründung für die Wichtigkeit von Kultur und Theater. Ich weiß, ich habe sie auch mal benutzt, aber – siehe oben: Es spricht ja nichts dagegen, alle Tage ein bisschen klüger zu werden. Nein – Kultur ist nicht systemrelevant, im Gegenteil: Sie steht außerhalb des Systems, sie nimmt quasi einen heterotopischen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft ein, von dem aus alles, was wir unhinterfragt für selbstverständlich halten, plötzlich in einem neuen, irritierenden Licht erscheint. Gerade darin liegt der inkommensurable Wert der Kunst. Und dieser Wert wird von der Politik nicht erkannt. Sie behandelt die Kunst wie jede andere x-beliebige Freizeitveranstaltung auch. Arts and Entertainment – so heißt das in den USA. Armin Laschets offenbar in einem beiläufigen Nebensatz gefallene, deshalb aber nicht weniger signfikante Einordnung der Kultur unter „Freizeit und Privatvergnügen“ aber ist in der Kulturnation Deutschland ein Armutszeugnis in Sachen Kulturverständnis. Es wurde einmal gesagt, dass die Coronakrise auch die fundamentalen Dysfunktionen unseres Gemeinwesens zu Tage fördere. Das stimmt – leider auch in Hinsicht auf die Kultur.

Und das Klopapier ist auch schon wieder knapp. Auch dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein…