Proben für eine Aufführung auf Abstand: Das Klangforum Wien in der Berliner Philharmonie

Krisentagebuch 23 – Nicht ganz unfreiwillige Zuspitzung

Wie alle Veranstalter musste das Musikfest Berlin wegen der Corona-Pandemie sein Programm radikal ändern. Nun ist es ein Festival mit viel Abstand – und einem starken Fokus auf zeitgenössischer Musik.

 

Berlin ist eine der Musikhauptstädte der Welt. Die eigene reiche Orchesterlandschaft und drei Opernhäuser bilden die Basis, internationale Gastspiele in den großen Konzerthäusern kommen hinzu. Und alljährlich lädt das Musikfest Berlin illustre internationale Spitzenorchester ein zu einem etwa dreiwöchigen Festival mit ausgefuchsten, dramaturgisch äußerst ambitionierten Programmen. In diesem Corona-Jahr sind internationale Orchestergastspiele natürlich unmöglich und deshalb wäre das Musikfest eigentlich ein klarer Absage-Kandidat gewesen. Aber sein künstlerischer Leiter Winrich Hopp, der das Festival seit 2006 verantwortet, riss das Ruder entschieden herum, verlegte Veranstaltungen aus dem Kammermusiksaal in den großen Saal der Philharmonie und spielte dort im August – Dank der extrem strengen Berliner Vorschriften – nur vor rund 450, seit September vor rund 630 Personen. In einem Interview mit der FAZ gab er zu, die Atmosphäre unter diesen Regularien sei „ziemlich nüchtern, auf Berlin gemünzt: unsexy.“

Programmatisch gelingt in Berlin indes Außergewöhnliches, denn den Kalender füllen nun statt der Gastorchester die großen Berliner Klangkörper und die ohnehin auch ursprünglich eingeladenen großen Ensembles für Gegenwartsmusik: Das Frankfurter Ensemble Modern, das Klangforum Wien und die Kölner Musikfabrik NRW. Der geplante Programmschwerpunkt mit Beethoven im Zentrum im zeitgenössischen Dialog ließ sich halten – Igor Levit etwa spielt erneut einen Zyklus mit allen 32 Klaviersonaten Beethovens – aber er verschob sich sehr deutlich hin zur Gegenwart. So konnte das ursprünglich geplante Porträt der Komponistin Rebecca Saunders sogar ausgebaut werden. Insgesamt bietet das Musikfest 30 Veranstaltungen und kommt damit exakt auf die Stärke der Ausgaben vor Corona.

Es scheint tatsächlich, als seien die Ensembles für das Zeitgenössische die Gewinner der Pandemie-Folgen: Die Ensembles sind kleiner und wendiger als die großen Orchestertanker, zudem gewöhnt an experimentelle Settings, wie etwa das Musizieren verteilt im Raum. Peter Paul Kainrath, seit Januar 2020 Intendant des Klangforum Wien und bis Anfang August „eigentlich nur online- Intendant“ äußerte diese unverhohlene Hoffnung bereits neulich in Salzburg bei einem Hintergrundgespräch im Café Bazar: „Wir sind klanglich und von der Spielkraft durchaus eine Alternative zu einem normalen Orchester, aber klein genug, um die aktuellen Fragezeichen beantworten zu können. Wir sind flexibler, wir kosten weniger.“

In Berlin spielt das Wiener Spitzen-Ensemble zwei Konzerte an einem Tag um 17 und um 21 Uhr von jeweils knapp einer Stunde Dauer. Die strikten Berliner Corona-Regeln fordern auch vom Publikum einiges an Disziplin. Die Eintrittskarten werden online versendet und müssen ausgedruckt vorgelegt werden, der Einlass wird über vier Eingänge entzerrt und ist mit einem Zeitfenster versehen, das ein Erscheinen mindestens 25 Minuten vor Konzertbeginn am jeweiligen Eingang verlangt. Zusätzlich sind die Besucherströme – die eher Rinnsalen gleichen – durch ein Farbsystem unterteilt, man hat am Eingang farbige Pfeile, denen dann im Inneren der Philharmonie mit neonfarbigem Licht markierte Aufgänge entsprechen. Das hat in der mitunter etwas verwirrenden Architektur der Philharmonie durchaus Vorteile. Hat man dann seine Tür gefunden, muss man sich anstellen im gebührenden Abstand. Ist man dann vorne an der Tür angekommen, bekommt man ein Blatt zur Datenerfassung nebst Bleistift ausgehändigt und darf ein paar Schritte in den Saal gehen, bevor man dort abgeholt und persönlich an den Platz gelotst wird, der auf der Eintrittskarte nicht festgelegt ist, sondern vom Ordnungspersonal spontan und nach Lage der Dinge vergeben wird. Das System der Platzverteilung ist undurchsichtig, so dass es sein kann, dass man zuerst da ist, aber im vorgesehenen Block weit hinten platziert wird. Diesen muss man dann auf dem Zettel vermerken, die Masken dürfen erst abgelegt werden, wenn die Saaltüren sich schließen. Geschafft!

Die Atmosphäre ist tatsächlich etwas unterkühlt, als das Klangforum die Bühne betritt zum ersten, ausschließlich Rebecca Saunders gewidmeten Programm. Doch das ändert sich schnell und weicht höchster Spannung, als Krassimir Sterev „Flesh for solo accordion with recitation“ anstimmt, nahtlos gefolgt von „Sole“ ein Trio für Akkordeon, Perkussion und Klavier. Saunders feinmaschige, die Zeit dehnende Kompositionen – das gilt auch für „Scar“ und die Klavier-Uraufführung „to an utterance“ – verlieren sich nicht in der leichten Überakustik, sondern profitieren eher davon.

Tags darauf spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter seinem Chef Vladimir Jurowski ein äußerst klug komponiertes Programm mit Anton Weberns Bearbeitung von Bachs Fuge aus „Ein musikalisches Opfer“, Alban Bergs Bruchstücken aus „Wozzeck“, Anton Weberns Variationen für Orchester op.30 und Alfred Schnittkes Concerto Grosso Nr. 1 für zwei Violinen, Cembalo, präpariertes Klavier und Streichorchester. Das Unbehagen über die Abstands-Sitzordnung merkt man diesem Klangkörper jedoch an, die Vereinzelung führt hier zu einer leicht defensiven Haltung, auch wenn Jurowski mustergültig für klare Signale sorgt. Das Programm kommt der Vereinzelung entgegen, bei Weberns Bach-Bearbeitung reichen die Instrumente die Motive und Töne weiter, seine Variationen op.30 finden zu einem organischen Bogen. Bei Bergs „Wozzeck“-Bruchstücken werden die Abstände wieder zu einem Problem, Sopranistin Anne Schwanewilms steht einsam in Block E und geht teilweise unter, auch der Kinderchor in Block H tönt zu entfernt. Stimmig dann wieder Schnittkes geistreiches Concerto Grosso, das mit seinenPseudo-Barock Passagen und Mozart-Anklängen zunehmend an Drive und klanglicher Intensität gewinnt.

Am Ende ertönt im Publikum ein Huster, wie eine Erinnerung an alte Zeiten.