Die Berliner Medienkünstler Marcel Karnapke und Björn Lengers sind die „CyberRäuber“, die ein Theater der virtuellen Realität erschaffen wollen. Ein Porträt
Wenn man sich mit den beiden CyberRäubern Marcel Karnapke und Björn Lengers in Debatten über VR (virtuelle Realität) und das Theater vertieft, werden zwei Dinge deutlich. Erstens: Die beiden lieben das Theater, glauben daran und wollen es weder abschaffen noch digital ersetzen. Zweitens – und damit landen wir mitten im philosophischen Kern ihrer Arbeit – sind sie sich der Gefahren und Potenziale ihrer medientechnischen Kunst völlig bewusst. Virtuelle Realität kann eine enorme emotionale Macht über den Nutzer entfachen, kann Narration völlig neu und multiperspektivisch denken – und dabei unsere gewohnt lineare, perspektivisch begrenzte Erkenntnisstruktur über den Haufen werfen. Trotzdem ist VR nur eine „Handreichung“, wie Marcel Karnapke es so schön ausdrückt. Die Welt sei doch voller Möglichkeiten – und jeder muss für sich selbst wählen.
Doch von vorn. Zwei Berliner (Medien-)Künstler, die sich 2015 bei der Präsentation einer Panoramakamera im Fraunhofer-Institut in Berlin kennenlernten, wollen ein „Theater der virtuellen Realität“ erschaffen. Das zu erklären ist ein bisschen wie einem Blinden den Farbrausch eines Regenbogens zu beschreiben. Wer einmal eine VR-Brille aufhatte und sich in solch einem virtuellen Raum bewegt hat, weiß um das Suchtpotenzial dieser vor allem im Gamingbereich etablierten Technik. Wikipedia beschreibt VR als „die Darstellung und gleichzeitige Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer physikalischen Eigenschaften in einer in Echtzeit computergenerierten, interaktiven virtuellen Umgebung“. Um das in die Welt des Theaters zu transferieren, haben die CyberRäuber zunächst angefangen, Bühnenräume zu digitalisieren. Für Kay Voges’ Dortmunder „Borderline-Prozession“ haben Karnapke und Lengers die Bühne mit Laserscannern photorealistisch digitalisiert und die Schauspieler mit 360°-Kameras gefilmt; Memories of Borderline wurde so eine Art digitale Essenz des Abends, eine interaktive Anwendung, die man mit einer dicken schwarzen VR-Brille frei durchlaufen kann.
Parallel dazu entstand für die Schillertage 2017 in Mannheim und das koproduzierende Kunstfest Weimar ihr Projekt Geisterseher, bei dem sie Schillers Romanfragment linear in VR erzählten. Ebenfalls beim Kunstfest Weimar und wie beim „Der Geisterseher“ mit Regisseur Branko Janack zeigten sie in dieser Saison Meet Juliet, Meet Romeo – ein virtuelles Theatererlebnis nach Shakespeares Klassiker. Hier wurden jeweils zwei Zuschauer für 45 Minuten mit VR-Brille und VR-Controller (eine Art Joystick) verkabelt, um sich damit selbst durch einen virtuellen Raum zu bewegen. Darin konnte man sich mit einem Teleporter-Knopf in einzelne Szenen „beamen“, den Schauspielern hautnah begegnen, aber nicht mit ihnen interagieren. Lediglich die eigene Verortung im Raum und die Auswahl der Szenen war wählbar. Eine Teilinteraktion mit den digitalisierten Schauspielern gehörte ursprünglich auch zum Konzept von „Meet Juliet, Meet Romeo“, nur fanden sich keine Koproduzenten für dieses technisch ambitionierte Format.
Hier stellt sich die Frage, wie bei einer derartigen Stückdekonstruktion das Vermitteln eines Plots, lineares Erzählen im Theater noch möglich ist. Oder überhaupt gewollt. Beim Klassiker „Romeo und Julia“ mag das unnötig sein. Aber funktioniert unbekannte Dramatik in VR, Uraufführungen, gar Musiktheater? Theater und Film sind lineare Medien, gewöhnlich wählt sich der Zuschauer seine Perspektive aus – oder wird in seiner Aufmerksamkeit gelenkt. VR hingegen ermöglicht eine gänzlich neue Art der Narration: „Meet Juliet, Meet Romeo“ verlässt jeder Zuschauer mit anderen Eindrücken, was die Macher klug auffangen, indem man sich nach dem intensiven VR-Erlebnis zu zweit noch auf einem Sofa austauschen kann, während zwei Monitore in Echtzeit die Bewegungen der folgenden Besucher übertragen – die damit wiederum selbst Teil der Performance werden.
Die Frage der Perspektivität geht eng einher mit jener des Bühnenraumes. Marcel Karnapke nennt das Bühnenkonzept der CyberRäuber deshalb „Hyperstage“: Ähnlich dem Hypertext, der in seiner netzförmigen Struktur mit Verlinkungen die Grundlage für das heutige Internet war, kann man in der VR-Bühne selbst entscheiden, wo man sich vertiefen und welche Szene man noch sehen will. Was nicht heißt, dass für die beiden eine herkömmliche Bühne als Raum keine Bedeutung mehr hat: „Ich glaube fest an Theater, an den physischen Ort“, sagt Björn Lengers. Aber das Konzept von „Raum“ als Bühne ist für ihn auch nur eine Technologie, die beim Amphitheater für ein passives Publikum seinen Ursprung nahm und heute mit VR eben das räumliche Handeln vieler Menschen gleichzeitig ermöglicht. Was bedeutet uns die Bühne heute noch in der Trennung Publikum/Künstler? Nicht umsonst, so muss man ergänzen, hat Sebastian Hannak gerade für seine Publikumsinteraktionen ermöglichende und fördernde Raumbühne Heterotopia an den Bühnen Halle den Deutschen Theaterpreis DER FAUST bekommen – und führt sein Konzept in dieser Spielzeit mit der Raumbühne Babylon fort.
„Der Mensch ist nun mal ein räumlich denkendes Wesen“, sagt Karnapke. Sich selbst bezeichnet er als Schnittstellendenker. Er hat Japanologie und Literaturwissenschaften studiert, ehe er über Mediendesign in Weimar zur Informatik kam. Dort hat er sich „festgebissen“, jemanden von der Uni Cambridge kennengelernt – und ging dann für ein Forschungsprojekt nach Italien, um mittels Laserscanner Steinzeichnungen zu digitalisieren. Auch das Gebäude der UdK in Berlin hat er gescannt und erzählt, wie er sich beim ersten realen Gang durchs Haus schon völlig auskannte, weil sein Gehirn zwischen dem realen und dem vertrauten virtuellen Raum keinen Unterschied machte. „Ich war nur frustriert, dass ich nicht mehr fliegen konnte!“, lacht er im temporeichen, mit technischen Details unterfütterten Skype-Interview. Die Nutzbarmachung von VR in Kunst und Kultur ist ihm wichtig, das sogenannte „Spatial Computing“ biete ein riesiges Lernpotenzial. „Mir ist superwichtig, dass die Leute verstehen, was alles möglich ist!“ Denn gut 80 Prozent der genutzten VR-Inhalte sind noch heute Ballerspiele und Pornographie; diese Industriezweige haben den gigantischen Markt früh erkannt und die technische Entwicklung vorangetrieben.
Auch Björn Lengers hat sich die digitale Programmiererwelt über Umwege erschlossen. Er arbeitete im Management eines Berliner Abfallentsorgungsunternehmens, bis er zu einem beruflichen Wendepunkt kam. Von Haus aus theaterinteressiert – seine Frau Birgit Lengers ist Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin –, arbeitete er damals schon an einem Projekt für die Konferenz „Theater und Netz“ der Heinrich-Böll-Stiftung. Bis heute ist er der Manager der CyberRäuber, arbeitet inhaltlich und koordiniert Termine, während Marcel eher der Softwaredesigner ist. Aber sie funktionieren demokratisch, müssen sich in Probenprozessen gegenseitig ersetzen können, denn beide haben Kinder und Familie in Berlin.
Und wie offen sind die deutschen Theater inzwischen, was VR und Digitalität angeht? „Ich erkläre seit zweieinhalb Jahren dasselbe, habe gefühlt allen schon alles erklärt – aber es braucht eben Zeit und ist ein Bohren dicker Bretter“, meint Björn Lengers. Aufwendige Technik, viele unbekannte Variablen, vor allem die Frage nach dem Live-Effekt?… Das sind Argumente gegen ihre Visionen. Aber die zwei sind realistisch und geduldig, was die Nachhaltigkeit ihre Pionierarbeit angeht. Denn die technische Entwicklung ist immens: Während ihr VR-Raum derzeit noch auf vier mal vier Meter begrenzt ist, wird bald die Größe einer Turnhalle bespielbar sein. Während momentan noch die mehrere Hundert Euro teuren verkabelten VR-Brillen für das komplett technisch-immersive Theatererlebnis nötig sind, rücken preiswerte und mobile VR-Brillen in greifbare Nähe. Jeden Morgen liest Marcel Karnapke in den entsprechenden Foren über Dutzende technische Neuentwicklungen.
Fakt ist: Auch mit VR soll Theater ein sozial geteiltes Medium bleiben und nicht daheim vorm Computer stattfinden, wie man befürchten mag. Die gute Nachricht ist: Immer mehr Theater trauen sich, die Technik zu testen, natürlich in Kombination mit „herkömmlichen“ Theatermitteln. Am Berliner Theater an der Parkaue haben die CyberRäuber mit „Die Biene im Kopf” ihr erstes komplettes Bühnenstück entwickelt. Den leicht moralisierenden Stoff von Roland Schimmelpfennig, in dem ein Junge seinem tristen Alltag mit arbeitslos-dauertrinkenden Eltern in eine Computerspielwelt entflieht, haben sie gemeinsam mit Regisseur Martin Grünheit als interaktives Digitaltheater gestaltet. Man betritt einen kleinen unbestuhlten Bühnenraum, folgt den drei Schauspielern nach Handzeichen, kann selbst eine VR-Brille testen – und hockt dann auf dem Fußboden, umgeben von einem kreisrunden Vorhang, auf den Videosequenzen, Livezeichnungen oder Google-Earth-Filme projiziert werden. Aus einem Berg von Schaumstoffteilen entstehen Bienenflügel, die Zudecke des Jungen – oder sie dienen als Projektionsfläche für Objekte der „Augmented Reality“: Man sieht also (wie bei Pokémon Go) mittels Tablet die Wirklichkeit von Objekten (ein Apfel, eine Jeans) überblendet. Erstaunlich ist, mit welcher Selbstverständlichkeit einige Kids den Schauspielern die Geräte aus der Hand nehmen und sich ins Spiel hineinbegeben. Und neben aller Technik wirken starke schauspielerische Momente, wenn etwa ein Pädophiler als Schiffskapitän verkleidet die Kids mit heißem Kakao lockt?…
„Die Parkaue hat verstanden, dass Bühne mehr kann“, freut sich Björn Lengers über die Zusammenarbeit, die in dieser Spielzeit mit dem Laborfestival Challenge My Fantasy am Jungen Staatstheater Berlin ausgebaut wird. In der für alle Interessierten offenen Diskussionsreihe sollen VR-Künstler eingeladen werden, zum Netzwerken und Erfahrungsaustausch unter dem Motto „Wir machen uns die virtuellen Hände schmutzig“. Den CyberRäubern wird derweil nicht langweilig. Es stehen Theater-VR-Produktionen am Theater Baden-Baden an („Der goldne Topf“, Premiere 15.11.18), am Jungen DT in Berlin („Verirrten sich im Wald“ nach „Hänsel und Gretel“, Uraufführung 30.3.19), ein Doppelpass-Projekt mit den Theatern in Karlsruhe und Linz sowie eine Produktion in München mit Regisseurin Christiane Mudra, dazu ein Gastspiel in Asien. Kein Wunder – denn das 2.0-Interesse ist im asiatischen Raum bekanntlich groß. Was die deutschen Theater betrifft, sollte man optimistisch und neugierig bleiben – auch auf die erste Oper in VR!