Das neue Gelsenkirchner Puppentheaterensemble als „Devil Team“ in „The Black Rider“

Die Puppen ins Laufen bringen

Am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen hat sich Generalintendant Michael Schulz mithilfe von NRW-Fördergeldern einen Wunsch erfüllt: eine Puppentheatersparte

aus Heft 11/2020 zum Schwerpunkt »Puppen welcome!«

Am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen hat sich Generalintendant Michael Schulz mithilfe von NRW-Fördergeldern einen Wunsch erfüllt: eine Puppentheatersparte

Das Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirchen beschreitet neue Wege – im Wortsinn. Bei der ersten Ausschreibung des gleichnamigen Förderprogramms des Landes Nordrhein-Westfalen für kommunale Theater und Orchester „gewann“ das MiR eine neue Puppentheatersparte, genauer: deren Finanzierung für drei Spielzeiten.

Für Generalintendant Michael Schulz geht damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. In seiner Zeit als Operndirektor am Deutschen Nationaltheater Weimar war er regelmäßiger Besucher des Theaters Waidspeicher in Erfurt und wurde dort zum Puppentheaterfan: „Wenn es gut gemacht ist, kann und darf Puppentheater teilweise mehr als die herkömmlichen Sparten“, erklärt er, „ästhetisch wie in dem, was auf der Bühne verhandelt wird. Was die Möglichkeiten anbelangt, mit Material zu arbeiten und zu erzählen, ist die Puppe auf einer anderen Ebene – sogar als der Tanz, der immer ein ästhetischer Motor an einem Haus wie unserem ist. Aus einem Stück Zeitung ganz einfach ein Schaf zu basteln und zum Leben erwecken, das kann nur die Puppe.“

Aber wie erfindet man eine neue Sparte und schafft es vor allem, diese in einen klar strukturierten, durchaus großformatigen Stadttheaterbetrieb zu integrieren? Man sucht sich einen Kooperationspartner, im Falle des MiR die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. „Zwischen Berlin und uns hat es sofort gefunkt. Die sehr konkrete szenische Arbeit und die Offenheit für neue technische, vor allem digitale Mittel, passen hervorragend nach Gelsenkirchen“, sagt Schulz. Davon konnte man sich zum Beispiel anlässlich des Triptychons „Puppet Masters“ überzeugen.

Szene aus den „Puppet Masters” (Foto:

Hier zeigten vier Puppenspielerinnen, die im ersten Jahr am Aufbau der neuen Sparte beteiligt waren, Anfang September zweimal ihre Examensinszenierungen. Und es war zu erleben, dass Puppenspiel in der in Berlin gelehrten „offenen Form“ viel mehr ist als – Puppenspiel. So spielten Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene die berührende Geschichte einer Liebe, die durch eine tödliche Krankheit gefährdet wird. Mit Puppenköpfen und abstrakten Gips­skulpturen wurden Schauplätze angedeutet und Nebenfiguren verlebendigt, vor allem aber ein  atmosphärisch dichter Rahmen geschaffen – für ein eigentlich „normales“ Zwei-Personen-Schauspiel. Evi Arnsbjerg Brygman setzte eine gewaltige, stumme Performance in Szene, in der sich ein gewaltiger weißer Körper mit Puppengesicht immer weiter aufblähte, was vage an einen Geburtsvorgang denken ließ, und Anastasia Starodubova spürte mit Texten des in Russland sehr populären Dramatikers und Regisseurs Iwan Wyrypajew den wilden Abstraktionen des russischen Futurismus nach. Viel Kunstwillen war da in zwei Stunden zu erleben, viel Konzentration, viel Bild- und Wirkungskraft – und ein Rest Undurchschaubarkeit. Das Publikum nahm das, was ihm da im Kleinen Haus des MiR geboten wurde, extrem freundlich auf.

„Natürlich ist das, was wir hier machen, eine große Herausforderung für einen eingespielten Musiktheaterbetrieb, zumal Puppentheater heute ja eigentlich vorrangig dem Sprechtheater zugeordnet wird und immer der latenten Gefahr unterliegt, dass es nur als eine Anreicherung für andere Theaterformen genutzt wird“, sagt Gloria Iberl-Thieme. Auch sie hat ein Puppenspielstudium in Berlin absolviert und ist jetzt mit der Leitung und Entwicklung der neuen Gelsenkirchener Sparte betraut. „Momentan prallen hier permanent unterschiedliche künstlerische und organisatorische Arbeitsweisen aufeinander, zumal viele Notwendigkeiten erst während des gemeinsamen Arbeitsprozesses sichtbar werden. Aber ich treffe hier auf viele großartige Kolleginnen und Kollegen, die mit offenherziger Bereitschaft die Vielseitigkeit des Musiktheaters mit dieser jungen Sparte erweitern wollen. Was dabei ungemein hilft, ist gegenseitige Neugier.“

Diese Neugier brachte das Publikum zur ersten Neuproduktion der letzten Spielzeit durchaus mit, zu Jan Dvoráks Frankenstein“-Oper. Die ist kein wirklich starkes Stück. Aber allein die Tatsache, dass das Monster von einer überlebensgroßen Puppe gespielt wurde – und von drei Puppenspielerinnen, die auch gesanglich gefordert waren –, fand großen Anklang beim Publikum. Dann bremste Corona den Neustart aus. Die als Puppentheaterproduktion im Großen Haus geplante „Winterreise“ musste verschoben werden, kleinere Projekte fielen aus, Netzaktivitäten traten an ihre Stelle. Und Nachdenken setzte ein. Würde man 2020/21 wieder von vorne beginnen müssen? Dann blieben nur zwei Jahre finanzielle Sicherheit, um die neue Sparte beim Publikum und den Trägern des Theaters zu etablieren. „Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns entschlossen, den sparteninternen Aufbau und die personelle Zusammensetzung des MiR-Puppentheaters neu zu strukturieren“, erzählt Iberl-Thieme. Ursprünglich sollte sie die Sparte mit jeweils vier jährlich wechselnden Examensstudentinnen und -studenten führen. Jetzt will man „ein bleibendes, festes Ensemble aufbauen, das die Chance hat, zusammenzuwachsen und sich über einen längeren Zeitraum zu entwickeln.“ So sind mit Daniel Jeroma und Merten Schroedter zwei gelernte Schauspieler neu fest ans Haus gekommen. Beide haben Erfahrungen mit Puppen, bringen aber auch ästhetisch neue Impulse ein.

„Es ist in dieser Saison unsere vordringliche Aufgabe, die Puppen am Musiktheater im Revier ins Laufen zu bringen“, sagt Michael Schulz. „Wir haben festgestellt, dass dafür drei Produktionen pro Saison zu wenig sind.“ Deshalb hat das Haus die Anzahl der Inszenierungen auf sieben erhöht. Das prominenteste Vorhaben ist zweifellos Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo“ als Gemeinschaftsprojekt von Musiktheater, Tanz und Puppentheater unter der künstlerischen Leitung von Tanzchef Giuseppe Spota. Neben der ins nächste Frühjahr verschobenen „Winterreise“ wurden eine Produktion für Kinder („Rico, Oskar und die Tieferschatten“ in einer Inszenierung von Kai Anne Schuhmacher (siehe Seite 42) sowie das 1990 uraufgeführte Musical „The Black Rider“ neu ins Programm gehievt.

Black Rider

Dieses inszenierte Astrid Griesbach, Dozentin an der Hochschule Ernst Busch, mit ungewöhnlich zusammengestelltem Personal. Der Bassbariton Joachim G. Maaß, die Musicalsängerin Annika Firley und der Musiker Sebastian Schiller treffen hier auf das komplette Puppentheaterensemble. In der Ahnentafel von Griesbachs Abläufen und Lisette Schürers Bildern lassen sich sowohl die „Black Rider“-Uraufführung von Robert Wilson nachweisen, ein vielfarbiges, brillantes Grusel-Kunstmärchen, als auch Michael Simons Gegenentwurf, eine 1995 in Dortmund herausgekommene heißkalte Kleinbürgerkarikatur. Griesbach gibt Zirkus, Volks- und Kasperltheater dazu und erzählt mit einer klaren Setzung: Das Liebespaar gerät, mangels Geschmeidigkeit und/oder Widerstandsgeist, außerhalb seines von Puppen dargestellten sozialen Umfelds und verfällt dem Teufel. Manchmal hakt die eine oder andere Stimme, mehrfach der Ton, der eine oder andere Witz verkrampft, und gelegentlich wuseln die Bewegungen ins Leere, sind die Bilder nicht so groß wie möglich oder nötig. Aber das durch Corona reduzierte Premierenpublikum ist voll dabei. Das Laute, das lakonisch Hingerotzte, die bekennend bunte Ausstattung und das hohe, sich wenig mit Erklärungen aufhaltende Tempo scheinen in dieser Zeit schlicht richtig zu sein. Und die Puppenleute überraschen, neben der Vielseitigkeit von Jeroma und Schroedter, übrigens ein großartiger Sprecher, vor allem mit dem Gesangstalent von Gloria Iberl-Thieme.

Und wie geht es weiter? 2022 endet die vorläufige Finanzierung. Michael Schulz: „Für mich wäre es, ehrlich gesagt, schrecklich, wenn ich in anderthalb Jahren sagen müsste: Das war’s. Ich möchte sehr gerne, dass es gelingt, dass das nicht passiert, über die Akzeptanz in der Stadt, durch Flexibilität in unserem Betrieb und indem wir versuchen, über andere Kanäle an Fördergelder zu kommen.“

Wie sagte man doch früher so schön im Ruhrgebiet? Glückauf! Es könnte sich sehr lohnen.