Marta Górnickas erste Chorinszenierung „Hier spricht der Chor” in Zürich

Das sprechende Wir

Marta Górnicka arbeitet ausschließlich mit Sprechchören – und an der Idee einer neuen Gesellschaft. Die polnische Theatermacherin im Porträt

aus Heft 03/2020 zum Schwerpunkt »Und jetzt alle!«

Marta Górnicka arbeitet ausschließlich mit Sprechchören – und an der Idee einer neuen Gesellschaft. Die polnische Theatermacherin im Porträt

Marta Górnickas Theater entspringt der Idee, den Chor selbst zum Protagonisten werden zu lassen, ihn zur Hauptfigur des Theaters zu machen. „Hier spricht der Chor“ hieß folgerichtig ihr erstes Stück, im Jahr 2010 aufgeführt von ihrem polnischen Chor Kóbiet, dem Chor der Frauen. Das Neuerfinden des Chores sei für sie von Anfang an eine künstlerische und politische Notwendigkeit gewesen, erzählt die Mittvierzigerin. Gerade arbeitet und forscht sie mit ihrem Political Voice Institute als Resident am Maxim Gorki Theater. Die martialischen Männerchöre, mit denen Einar Schleef sich in Deutschland einen Namen gemacht hat, die Einheitshorden von Volker Lösch hat Marta Górnickas Theater um einen neuen Typus ergänzt. Chöre, die aus Solistinnen bestehen, Chöre, die sich musikalisch an ihren Texten abarbeiten, Chöre, die immer beides sind: Forschungslabor des Politischen und Ensemble. Die Regisseurin hat mit ihren energiegeladenen Sprechopern weltweit die Bühnen erobert.

Als Sängerin und Performerin ausgebildet, bekam Marta Górnicka am renommierten Warschauer Theaterinstitut die Chance, das chorische Theater, das es bis dahin in Polen nicht gegeben hatte, neu zu entwickeln. Dezidiert nahm sie sich vor, die Männerdomäne Chor als Instrument weiblicher Stimmen neu zu erfinden. Was zunächst als Labor gedacht war, nahm bald Fahrt auf. „Magnificat“, im Jahr 2011 als zweite Arbeit des Frauenchors in Warschau aufgeführt, gastierte weltweit. Diese Variante der „Lobpreisung“ – zusammengesetzt aus Bibeltext-Fragmenten, Jelinek-Schnipseln und Ausschnitten aus den „Bakchen“ des Euripides war ein Kommentar zur christlich geformten Rolle der Frau, wütend, kraftvoll und kritisch. Das Stück gewann den Preis des Nachwuchsfestivals Fast Forward am Staatstheater Braunschweig, wo Górnicka daraufhin ihre erste Arbeit in deutscher Sprache produzierte „M(other) Courage“. Das Stück ist eine vibrierende Ausein­andersetzung mit Europas Fliehkräften. Sehr frei nach Brecht war Angela Merkel hier die Übermutter der widerstreitenden Diskurse. Antigone, Maria, Mutter Courage … Górnicka sucht sich jeweils eine Figur aus dem Kanon als Leitmotiv und interpretiert sie neu, indem sie thematisch passende Fragmente aktueller Diskurse einspeist.

Das sprechende Wir als Keimzelle der Gesellschaft: sich einfügen in den Beat der Gruppe und so zum funktionsfähigen Teil des Ganzen werden. Schon bei Platon ist die Choreia nicht in erster Linie ein ästhetisches, sondern ein pädagogisches Konzept. Sprache, Rhythmus, Bewegung und Musik sind die Komponenten in Marta Górnickas Theater, das sich an unterschiedlichen politischen Konfliktfeldern abarbeitet.

„Mir geht es darum, den ideologischen Rahmen bestimmter Sätze und Begriffe sichtbar werden zu lassen, hinter ihre Kulissen zu blicken.“ Marta Górnicka

Mit „Hymne an die Liebe“ (2017) komponierte Górnicka ein „National Songbook“ aus Internetposts und Aussagen von Politikern. Menschen mit gegensätzlichen politischen Überzeugungen zitieren gewaltvolle Sprache, befragen so die Ideologie des Nationalen. In dieser Aufführung aber wird die Gewalt nicht einfach reproduziert, sondern flüsternd und schreiend zur Diskussion gestellt. Im Gespräch über ihr Theater berichtet die polnische Regisseurin von schönen und schrecklichen Sätzen und dem spannungsvollen Raum dazwischen: „Sprache ist nicht transparent, oft steckt sie voller Gewalt. Mir geht es darum, den ideologischen Rahmen bestimmter Sätze und Begriffe sichtbar werden zu lassen, hinter ihre Kulissen zu blicken.“

Und weil Stimme und Sprache gleichermaßen wichtig sind, schreibt Górnicka selbst, ist also in mehrfacher Hinsicht Autorin ihrer Inszenierungen. Aus Textfragmenten der Chormitglieder, aus Politikerreden, Hate Speeches aus dem Internet und Nationalhymnen sampelt sie die Partituren ihrer Stücke. Strukturen will sie sichtbar machen. Dazu passt, dass die Regisseurin selbst Teil der Aufführungen ist. Als Dirigentin agiert sie – ganz in Schwarz: Lebhafte Arme und Hände tanzen resolut über den dunklen Locken in der Luft.

Für „Grundgesetz“, das im Rahmen des Tags der Deutschen Einheit im Jahr 2018 für das Gorki Theater am Brandenburger Tor Premiere hatte, stützte sie sich auf die Diversität des Schwarms: unterschiedliche Stimmen, alte und junge, randständige und etablierte, fremd- und deutschsprachige, solche mit markanten politischen Ansichten. Denn Górnicka arbeitet dafür, die Formel offen zu halten, die Zutaten also von dem, was oder wer jeweils die Gemeinschaft ist, die spricht. Dissens statt Konsens. Ganz gezielt sucht sie mit ihren Open Calls nach Leuten, die inhaltlich zum Thema passen, weil sie eine starke Position vertreten. Darstellerische Professionalität ist jedenfalls nicht ihr Auswahlkriterium. Die Aufführungen überzeugen zwar auch in dieser Hinsicht. Trotzdem steht Demokratie im konkreten Sinn beim Casting im Vordergrund. Górnickas Ziel ist eine Kunst der Vielen.

„‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Männer und Frauen sind gleich.‘ Was bedeuten diese wundervollen Sätze, inwiefern schützen sie uns vor Unrecht, und für wen gelten sie überhaupt“, fragt die Theatermacherin. Darüber habe sie mit jedem und jeder Einzelnen gesprochen, bevor die Arbeit am „Grundgesetz“ begann. Wie würde es gelingen, einen lebhaften Achtjährigen mit Downsyndrom zum Teil des Ensembles zu machen? Wenn die Arbeit sich um solche Überlegungen dreht, die sowohl praktischer wie inhaltlicher Natur sind, dann stimmt die Formel, und der Spirit der Arbeit übermittelt sich als utopische Kraft.

Dorthin gehen, wo es wehtut: Im Jahr 2014 lud Marta Górnicka für „Mother Courage won’t remain silent“ sechzig jüdische und arabische Mütter, israelische Soldaten, Kinder und Tänzer ein. Die Mütter traten im Stück einzeln vor, sagten, wer sie sind, was sie am liebsten für die Familie kochen. Das Konzept war so schlicht wie ergreifend: Vertreter gegnerischer Kriegsparteien gemeinsam auf einer Bühne, erkennbar als fragile Menschen.

„Der Prozess, in dem streitende Parteien zu einem Wir werden, ist künstlerisch und politisch gleichermaßen interessant.“ Anna Opel

„Wenn ich mit gegnerischen Parteien arbeite, zum Beispiel 2014 in Israel, mitten im Gazakrieg, ist das wichtigste Ziel, den Chor zusammenzustellen. Wer ist dabei, wer darf sprechen, unter welchen Umständen kann das Wir gelingen?“ Der Prozess, in dem streitende Parteien zu einem Wir werden, ist künstlerisch und politisch gleichermaßen interessant.

Die Eindrücke und Stimmungen, die Górnickas Produktionen hinterlassen, sind sehr unterschiedlich. Wucht und Überwältigungsstrategie des chorischen Sprechens, der musikalische Umgang mit Sprache: Nicht immer gelingt die Ba­lance zwischen Wut und Utopie. Manchmal vergaloppiert sich Górnickas Theater, ist sich seiner Mittel allzu sicher – und überschreitet die Grenze zum Plakativen. „Jedem das Seine“, eine Koproduktion zwischen Münchner Kammerspielen und Maxim Gorki Theater, eine wütende Tour de Force über die Vagina als Steinbruch des faschistischen Denkens, drohte vor lauter Wut das zu reproduzieren, was es doch kritisierte.

Ein Jahr lang arbeitet die Regisseurin nun am Political Voice Institute am Maxim Gorki Theater an nichts Geringerem als an der Idee einer neuen Gesellschaft. Das weiblich dominierte Ensemble wärmt sich im Lichthof des Gorki auf. Vier Männer sind unter den etwa fünfzehn Performerinnen. Górnicka hat Aktivistinnen unterschiedlicher Nationalitäten und Sprachen eingeladen, mit ihr einen Gemeinschaftskörper, den „social body“ zu erschaffen, der sich nationalistischen Bewegungen der Gegenwart entgegenstellt.

Wie das Gemeinsame entsteht, das nicht totalitär ist, sondern beweglich, lässt sich an diesem Morgen im Probenraum erahnen. Im Rhythmus ihrer wippenden Körper bleiben alle in Bewegung, halten Kontakt zum Boden, bilden ein soziales Perpetuum mobile, immer zugleich sie selbst und Teil des Ganzen. Was Górnicka im Gespräch erläutert hat, hier wird es konkret, greifbar: das Bild eines Gemeinschaftskörpers, der individuelle Moves erlaubt. Wieder und immer wieder neu ist Marta Górnicka dran am Ursprungskern des Chors. Sie sucht und forscht nach dem Ideal der Polis.