Wolfgang Engel im Jahr 2011, als er mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde

Zum Tod von Wolfgang Engel

Wolfgang Engel war  einer der prägenden Regisseure der späten DDR. Er leitete nach der Wende das Schauspiel Leipzig von 1995 bis 2008. 2011 wurde er mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für sein Lebenswerk geehrt. Nun ist er mit 81 Jahren gestorben.

Die berührendste Begegnung war die letzte: Bei Wolfgang Engel zu Hause in Leipzig, bei Kuchen und Kaffee, für den Ehemann Martin Reik gesorgt hatte, die freundliche Pflegekraft, für den Schlaganfall-Patienten Engel immer in Rufweite. Damals sollte ein Buch (zu Vergangenheit und Gegenwart der Bühne, die Peter Sodann Anfang der 80er Jahre in Halle „Neues Theater“ getauft hatte) entstehen. Und Engel war als Zeitzeuge gefragt, weil er zum einen Sodann gut gekannt hatte. Zum anderen hatte er in der Zeit des Intendanten Matthias Brenner an diesem Haus eine Art Comeback feiern können. Zunächst erarbeitet er am Neuen Theater in Halle als Regisseur Shakespeares „Othello“; dann wirkte er aber als Schauspieler: in „Vögel“, dem Stück des libanesischstämmigen Dramatikers Wajdi Mouawad, in dem Versöhnung beschworen wird.

DDR-Star und Außenseiter

Das war ein zutiefst ergreifender Bühnenmoment, auch weil sich mit Engel jenes wichtige Stück deutsch-deutscher Theatergeschichte in Erinnerung rief, das er so intensiv mit geprägt hatte wie wenige sonst. Auch darüber war zu reden bei Kaffee und Kuchen in Leipzig: Über den Start in der Geburtsstadt Schwerin, wo der Abiturient vom Jahrgang 1943 Anfang der 1960er Jahre lieber Bühnenarbeiter am Theater wurde als zu studieren; über die „Bühnenreifeprüfung“, die ihn bald danach zum Schauspieler promovierte; über Stücke für Kinder, die er noch in Schwerin und später am Theater der Freundschaft in Berlin erarbeitete; über erste Regie-Arbeiten in der DDR-Provinz, etwa in Radebeul; über den Weg nach Dresden, wo 1980 Engels Karriere erst richtig begann. Kurz vor der Wende gehörte er zu den Initiatoren einer Bewegung, in deren Verlauf sich Künstlerinnen und Künstler an den Theatern einzumischen begannen in die Politik – unter dem Motto „Wir treten aus unseren Rollen heraus“.

Als viele Jahre später das Recherche- und Theater-Kollektiv Rimini Protokoll in Dresden eine Produktion zur Geschichte der Wende in Dresden in Gestalt eines „Audio Walk“ produzierte, war Wolfgang Engel einer der akustischen Zeugen der Zeit. Er erzählte von sich selber, vom eigenen Leben im Umbruch – und von den Besuchen der Stasi in Augenblicken, wo es nun wirklich gar nicht passte … Auf den bekennenden Homosexuellen Engel hatten die dienstbaren Geister von der Staatssicherheit stets ein besonders scharfes Auge. Als Engel später, ganz kurz vor der Abwicklung der DDR, nach dem „Kunstpreis“ auch noch deren „Nationalpreis“ erhalten sollte, hat er die Annahme abgelehnt.

Prägender Regisseur der Wendezeit

Engels Dresdner Inszenierung beider „Faust“-Teile ist legendär – 1990 entstanden, mitten im „Übergang“, verteilt auf drei Abende und mit sich selber und dem Schauspiel-Partner Christoph Hohmann in den zentralen Rollen am Beginn des Marathons. Nach diesem Kraftakt (und mit dem Wechsel der Intendanz – Gerhard Wolfram ging, Dieter Görne übernahm das Schauspiel in Dresden) nahm der Regisseur dann aber (für viele erstaunlich!) Abschied von Dresden. Schon zuvor war Engel ja Gast im Westen gewesen, am Burgtheater in Wien oder am Zürcher Schauspielhaus, ab und zu reisten auch Dresdner Engel-Inszenierungen ins andere Deutschland.

Aber jetzt übernahm Engel als erster prominenter Ost-Regisseur (Frank Castorf, Matthias Langhoff, Manfred Karge oder Fritz Marquardt waren immer nur Gäste im Westen gewesen!) eine feste Position auf der anderen Seite aller trennenden Grenzen: am Schauspiel in Frankfurt am Main. Leicht wird das nicht gewesen sein. Eine „Othello“-Inszenierung von dort blieb in starker Erinnerung, aber glücklich wurde der Theatermacher nicht am Main. 1995 übernahm er für dreizehn Jahre die Intendanz am Schauspiel Leipzig.

Starker Mann der leisen Töne

Noch einmal und wie in Dresden setzte er dort auf den Kraftakt mit beiden „Faust“-Teilen, inszenierte neben vielem anderen auch den Marathon der kompletten Hebbel-Tragödie über „Die Nibelungen“. Als freier Regisseur nach Ende der Leipziger Intendanz arbeitete Engel wieder in Dresden und bearbeitete dort 2010 die DDR-Rückschau im Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp für die Bühne, aber auch Bulgakows „Meister und Margarita“, „Der Drache“ von Evgenij Schwarz und „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Gelegentlich führte ihn die Arbeit aber auch nach Düsseldorf – hier entwarf er eine Bühnenversion zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“, brach mit Goldoni auf zur „Trilogie der Sommerfrische“ und half zuletzt vor zehn Jahren einen Roman zu entdecken – „Königsallee“, Hans Pleschinskis fiktive Geschichte über Thomas Mann, eine große Lebensliebe und das Wiedersehen der beiden 1954 in Düsseldorf.

Was aber war und blieb typisch in Wolfgang Engels Arbeit? Dass er sich immer wieder auf die Suche machte nach dem Unaussprechlichen, dem Schrecken, dem Geheimnis, dem Tabu. Unvergessen ist eine spektakuläre Inszenierung von „Titus Andronicus“, entstanden in Wien und eingeladen zum Theatertreffen nach Berlin. All dieser Schrecken aber, all diese Spurensuche im Tabu, war bei Engel getragen von der tief im Herzen verwurzelten Sehnsucht nach Menschlichkeit und – ja! – Liebe. Auch darum gerieten die letzten Begegnungen in Halle so außergewöhnlich und schön – gerade in der Zeit nach dem Schlaganfall vor acht Jahren, gestützt in jeder Beziehung vom Partner Martin Reik, durchmaß Engel noch einmal die Möglichkeiten dieser Sehnsucht. Auch deswegen konnte das Publikum in Halle diesem Theatermenschen noch einmal sehr nahe kommen, vielleicht sogar so nah wie nie: beim letzten Bühnen-Auftritt mit Wajdi Mouawads Sehnsuchts- und Versöhnungsstück.

Denn wie kämpferisch, streitbar und (so sagt es der Regisseur und Engel-Schüler Ronny Jakubaschk) „kantig“ dieser Theatermensch auch im Leben stand, so stark war der uralte Traum von Gemeinschaft, wie sie dem Menschen möglich ist.