Zum Tod von Heiner Bruns
Foto: Verstarb gestern im Alter von 84 Jahren: Heiner Bruns, der Vater des „Bielefelder Opernwunders“ © Theater Bielefeld Text:Detlef Brandenburg, am 5. Dezember 2019
Ich sage das jetzt mal sehr persönlich: Der Tod des ehemaligen Bielefelder Intendanten Heiner Bruns geht mir nahe. Ich kenne ihn seit über 30 Jahren – und damit viel länger, als er mich gekannt hat. 1975, im selben Jahr, in dem Heiner Bruns seine heute geradezu legendäre Intendanz am Theater Bielefeld antrat, begann ich mein Studium der Musikwissenschaft in Kiel. Und es waren zwei Kommilitonen, die immer wieder von sagenhaften Opernaufführungen im fernen (die Welt war kleiner damals) Bielefeld raunten. So fern, dass man es nicht mit dem VW Käfer erreichen und dann nachts noch wieder zurück nach Kiel fahren konnte, war Bielefeld aber dann doch wieder nicht. Und so ergab sich während meiner Studienjahre ein lockerer Pendelverkehr zwischen Kiel, der Stadt ohne Gesicht, und Bielefeld, der Stadt, die es eigentlich gar nicht gibt. Und ich wurde Zeuge von etwas, von dem ich damals noch nicht wusste, was es später werden sollte: vom Bielefelder Opernwunder.
Heiner Bruns leistete Wiedergutmachung an dem verheerenden Kulturbruch, den die Nazi-Barbarei auch im Opernbereich angerichtet hatte. Er spielte die vertriebenen oder ermordeten jüdischen, die totgeschwiegenen unangepassten und die verbotenen avantgardistischen Komponisten: Opern aus der Zeit der Weimarer Republik, unter anderem von George Antheil, Frederic Delius, Paul Hindemith, Arthur Honegger, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek, Buhoslav Martinů, Franz Schreker, Kurt Weill oder Egon Wellesz. Er brachte Werke der Gattung Grand opéra von Berlioz, Boito, Halévy oder Meyerbeer, die damals zwar in unseren Seminaren, aber kaum einmal auf den Bühnen vorkamen. Und er ermöglichte eine Menge oder Ur- und Erstaufführungen neuer Opern von John Adams, Leonard Bernstein, von dem aus jüdischer Tradition komponierenden Moshe Cotel, der US-Amerikanerin Thea Musgrave, dem Deutsch-Australier George Dreyfus, dem russischen Underground-Avantgardisten Nikolai Karetnikow, dem Jazz-Klassik-Fusion-Musiker Theo Loevendie, von Tilo Medek, Heitor Villa-Lobos, Udo Zimmermann, und, und, und…
Mit anderen Worten: Bruns machte in Bielefeld genau das, von dem seine Kollegen an anderen Häusern immer behaupteten, damit würde man das Publikum vergraulen. Wir Studenten aus Kiel staunten Bauklötze. Und das Bielefelder Publikum war begeistert. Oder es ärgerte sich. Protestierte. Schimpfte. Aber es wollte dabei sein, sei es nun bei der neusten Opern-Entdeckung oder dem neusten Opernskandal. Bruns bestand darauf, dass Musiktheater etwas mit der Gegenwart zu tun haben müsse, und das gern auch auf ungemütliche, kritische Weise. Prägend für seine Bielefelder Dramaturgie war unter anderem seine Zeitopern-Reihe mit Werken, die unmittelbar Themen der Zeit aufgriffen oder sich zumindest auf solche beziehen ließen: „Maschinist Hopkins“ von Max Brand, „Neues vom Tage“ von Paul Hindemith, „Der Sprung über den Schatten“ von Ernst Krenek, „Der Schmied von Gent“ von Franz Schreker.
Natürlich war das Bielefelder Opernwunder Teamwork. Schließlich war Heiner Bruns ein überzeugter Vertreter des Ensembletheaters. Die Edeloper mit gut bezahlten, aber schlecht geprobten reisenden Stars war ihm ein Gräuel. Für die Dramaturgie des Hauses war neben ihm selbst der Chefdramaturg Alexander Gruber zuständig, und für die Regiehandschrift der junge Oberspielleiter John Dew mit seinem kongenialen Bühnenbildner Gottfried Pilz. Dew war ein Provokateur von hohen Graden und ebenso hoher Intelligenz. Er konnte den Nerv eines Stückes genau da treffen, wo die Inszenierungstradition den tieferen Sinn verharmloste, weil es sonst unbequem, ja schmerzhaft wurde. Bei Dew wurde es schmerzhaft, allerdings oft auf quietschkomische Weise. Als ich in Kiel bereits junger Journalist war und das dortige Opernhaus 1986 die deutsche Erstaufführung von Aulis Sallinens Oper „Der König zieht nach Frankreich“ ankündigte, mit einem gewissen John Dew als Gastregisseur, da ahnte ich, was zu erwarten stand. Dew machte aus der etwas betulichen Läuterungsgeschichte eine schrille Travestie auf das britische Königshaus und besetzte den König mit einem Bass, der in perfekter Maske Maggie Thatcher brillant parodierte – der Skandal war gewaltig: Buh-Orkane, wütende Artikel in finnischen Zeitungen, es gab sogar eine informelle Note des finnischen Konsuls.
Heiner Bruns wurde 1935 in Düsseldorf geboren, wo er die Gustaf-Gründgens-Zeit am Schauspielhaus miterlebte. Seine eigene Theaterlaufbahn begann er 1957 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen als Regieassistent von Karl-Heinz Stroux und Gustav Rudolf Sellner. Sellner holte ihn dann als Dramaturgen ans Staatstheater Darmstadt, 1960 ging er als Chefdramaturg zu Arno Wüstenhöfer an die Bühnen der Hansestadt Lübeck. 1971 wurde er Intendant des Stadttheaters Pforzheim und 1975 Intendant der Bühnen der Stadt Bielefeld. 1986 wurde er übrigens zum Generalintendanten der Essener Theater gewählt – nahm die Wahl aber nicht an und blieb bis zu seiner Pensionierung 1998 in Bielefeld, wo er sich in seinen späten Intendanten-Jahren mit Sparmaßnahmen herumschlagen musste, die unter anderem zur Schließung des Kinder- und Jugendtheaters führten.
Heiner Bruns hat in Bielefeld natürlich auch sehr spannendes, konzeptgetragenes und gegenwartsrelevantes Schauspiel gemacht. Aber das gab es anderswo in vergleichbarer Weise auch. Das Genre „Oper am Stadttheater“ aber hat er auf radikal innovative und zeitgenössische Weise neu definiert. Insofern ist er ein Vorfahre von Intendanten wie Florian Lutz oder Benedikt von Peter. Und auch uns, die jungen Besucher aus Kiel, hat er damals geprägt. Dass ich ihn zehn Jahre später beim Deutschen Bühnenverein als Mitglied etlicher Gremien kennenlernen durfte, das war mir, ich kann es nicht anders sagen: eine große Ehre. Bruns trat beim Bühnenverein stets sehr bescheiden auf, so dass sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand manch jüngerer Theatermann oder Kulturpolitiker dessen vielleicht gar nicht mehr bewusst war, welcher Verdienste sich dieser zurückhaltende ältere Herr hätte rühmen können, wenn er das denn gewollt hätte. Aber an eines werden sich alle Teilnehmer einer Gruppensitzung oder Hauptversammlung mit Sicherheit erinnern: Wenn nach dem Bericht des Vorsitzenden oder Vorstands die Aussprache darüber beendet war, dann gab es meist eine etwas verlegene kleine Pause. Und in dieser Pause erhob sich Heiner Bruns, wandte sich ins Plenum und sprach: „Ich bitte um Entlastung des Vorstands!“
Den Job muss nun leider ein anderer übernehmen. Heiner Bruns ist gestern nach schwerer Krankheit im Alter von 84 Jahren verstorben.