Zum Tod von Hans-Thies Lehmann
Foto: Hans-Thies Lehmann © privat Text:DDB Admin, am 18. Juli 2022
Hans-Thies Lehmann ist tot. Der wohl wichtigste Theaterwissenschaftler seiner Generation verstarb am Samstag, den 16. Juli 2022 nach langer, schwerer Krankheit in Athen. Er wurde 77 Jahre alt. Sein Buch „Das postdramatische Theater“ (1999) gilt nicht zu Unrecht als erster internationaler Bestseller der Theaterwissenschaft. Seit bald 25 Jahren hat es die Debatte über zeitgenössisches Theater maßgeblich beeinflusst.
Doch Lehmann war nicht nur Zeuge, Wegbegleiter und Interpret dieser Entwicklung, sondern einer seiner wesentlichen Ermöglicher, um nicht zu sagen „Treiber“: Zusammen mit Andrzej Wirth hat er in den frühen 1980er Jahren den Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig Universität Gießen aufgebaut. René Pollesch und Hans-Werner Kroesinger gehörten zu seinen ersten Studierenden. Ab den 1990er Jahren sind dort auch die bis heute prägenden Theater-Kollektive der freien Szene entstanden, unter anderem Rimini Protokoll, She She Pop, Gob Squad und Showcase Beat Le Mot. Oder wie andcompany&Co. in Frankfurt am Main, wo Lehmann den Studiengang Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität mitbegründete. Die Bezeichnung „Frankfurter Schule der Theaterwissenschaft“ setzte sich nicht durch, obwohl der Begriff keine unzutreffende Umschreibung liefert. Trotz profunder Kenntnisse der Französischen Theorie (Lacan, Derrida, Foucault, Deleuze & Guattari) blieb Lehmann immer ein guter, das heißt untreuer Schüler der Kritischen Theorie. Seine Habilitationsschrift „Theater und Mythos“ (1992) verdankt der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno wesentliche Einsichten. 1968 studierte Lehmann am renommierten Szondi-Institut in West-Berlin und wusste aus eigener Anschauung von den Szenen dieser folgenreichen Wiederveröffentlichung zu berichten: Studenten standen Schlange, rauften sich um Raubkopien, die sie sich förmlich aus den Händen rissen. Den beiden älteren Herren aus Frankfurt war diese reißende Nachfrage eher unheimlich…
Im Vorwort zu „Theater und Mythos“ (das für ihn selbst nicht mehr als ein Vorwort zu einem viel ausgedehnteren Werk über Mythos und Literatur sein sollte) blitzt kurz jenes Wort auf, das ihn ein paar Jahre später in der Theaterwelt berühmt machen sollte: Fragte er sich doch damals schon, ob das „prädramatische Theater der Antike“ nicht sehr viel mit den „postdramatischen Theaterformen“ der Gegenwart zu tun habe. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2010 widmete er sich dann dem voluminösen Mittelglied seiner Drama-Trilogie: „Tragödie und dramatisches Theater“ (2013). Doch ging es ihm bei dieser lebenslangen Beschäftigung mit dem Drama nicht allein darum, der Theaterwissenschaft als eigenständiger, von der Philologie unbeeinträchtigten Zweig der Geisteswissenschaft ein solides Fundament zu verschaffen, sondern er lieferte auch der Praxis eine regelrechte Waffe an die Hand (ganz im Sinne von Althussers „theoretischer Praxis“). Noch vor 20 Jahren hatte ein Satz wie „Es gibt Theater ohne Drama!“ den Beiklang von Hammerschlägen an Kirchenportalen. Dass sich so ein Satz heute so leicht abnicken lässt, ist nicht zuletzt sein Verdienst.
Neben seinen Dramen-Studien galt Lehmanns lebenslanges Interesse den Texten von Bertolt Brecht und Heiner Müller. Zusammen mit Genia Schulz hat Lehmann am ersten umfassenden Werk zu Heiner Müller gearbeitet. Im Jahr 2003 folgte das Heiner Müller Handbuch, das er zusammen mit Patrick Primavesi im Metzler-Verlag herausgegeben hat. Zahlreiche Essays zu Brecht, Müller, aber auch zu Artaud, Bataille oder Themen wie das „Welttheater der Scham“ folgten, versammelt etwa in „Das Politische Schreiben“ (2002) oder dem Band „Brecht lesen“ (2016). Zusammen mit Helmut Lethen hatte er schon früh einen Band zu Brechts Lyrik herausgegeben („Bertolt Brechts Hauspostille“), deren genaue, oft auch verspielte Lektüre (Titel wie „Brecht das Schweigen!“) sich wohltuend von der simplifizierten Lesart der Brecht-Dogmatik sowohl ost- wie westdeutscher Provenienz abhob. Aufsehenerregend und durchaus kontrovers waren seine Beiträge zum „Anderen Brecht“ im Brecht Yearbook (1992). Wie kaum ein Wissenschaftler seiner Generation hat Lehmann sich Heiner Müllers Satz zu eigen gemacht: „Brecht zu gebrauchen ohne ihn zu kritisieren ist Verrat.“ Essays wie „Fabel-Haft“ haben auf theoretisch versierter Weise Müllers Aufforderung entsprochen und damit einen Blick auf ein nicht nur postdramatisches, sondern ebenso post-episches Theater geöffnet: ein Theater nach Brecht – nicht nur nachfolgend, sondern eben auch im Sinne von „entsprechend“.
Dabei hat Lehmann, wie sein Lehrer Peter Szondi, eine „Ethik der Lektüre“ praktiziert, der oft genug eine „kollektive Lektüre“ zugrunde lag, zu denen nicht nur seine Vorlesungen, sondern auf unverwechselbare Weise auch seine Texte einluden: szenisch auf eine minimalistische, aber umso konsequentere Art und Weise. Dass eine solche Ethik auch politische Relevanz besitzt, war eine der wichtigsten Lektionen, die man von ihm lernen konnte. Vehement hat Hans-Thies Lehmann im Sinne Walter Benjamins gegen eine „Ästhetisierung der Politik“, für eine „Politisierung der Kunst“ plädiert – ein Impuls, der heute so wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist als je zuvor. Nicht nur aus diesem Grund wird er fehlen.
Wir danken der Akademie der Künste Berlin, der Hans-Thies Lehmann seit 2017 angehörte, für die freundliche Überlassung des Porträtfotos.