Wiener Festwochen: Krisen, Kriege, Katastrophen
Foto: Die Eröffnung der „Wiener Festwochen“ am 12. Mai 2023 vor der stimmungsvollen Kulisse des Wiener Rathauses © Ines Bacher Text:Christina Kaindl-Hönig, am 5. Juni 2023
Die Wiener Festwochen zeigen vom 12. Mai bis 21. Juni 36 Produktionen aus aller Welt: Performances, Musiktheater, Schauspiel und Tanz. Es ist die letzte Spielzeit von Intendant Christophe Slagmuylder. Eine Zwischenbilanz.
Angesichts der zunehmenden Sprachlosigkeit vor einer sich beunruhigend verändernden Welt zeitigt das Theater unterschiedliche Strategien, um für die Komplexität der Krisen eine angemessene Sprache zu finden und sie kritisch zu reflektieren. Von gegenwärtigen Kriegen und Gräuel, über Klima- und Umweltkatastrophen bis zu individuellen Tragödien reicht das Themenfeld der diesjährigen Wiener Festwochen mit 36 Produktionen aus aller Welt. „Die Stadt und ihre Bewohner:innen mit positiver, progressiver Energie aufzuladen“, ist dabei das deklarierte Ziel, das der scheidende Intendant Christophe Slagmuylder mit seiner letzten Spielzeit verfolgt.
Um die Gegenwart greifbar zu machen, war eine Reihe von Uraufführungen auf die Vergangenheit gerichtet. Wie etwa „Museum of Uncounted Voices„, entwickelt von der ins Exil geflüchteten russischen Theatermacherin Marina Davydova, der designierten Leiterin des Schauspiels bei den Salzburger Festspielen. Im Odeon betritt das Publikum eine bis auf Wandnischen leere Guckkastenbühne. Es ist eine Ausstellung über die Entstehung und den Zerfall des einstigen Großreichs Russland mit historischen Exponaten wie Zarenkrone und Reichsapfel, die eine Stimme aus dem Off kommentiert, ehe das Publikum im Zuschauerraum Platz nimmt und die Bühne in Video-Flammen aufgeht: Hysterisch überschlägt sich die Erzählerstimme in nationalistischem Geifer, als es um Putins historisch nicht zu legitimierende territoriale Ansprüche geht. Es ist ein informativer Geschichtsvortrag, der die Bühne als Museum nutzt, wo historische Fotos von Opfern der sowjetischen Diktatur des 20. Jahrhunderts aus dem Bühnenhimmel herabsinken. Theatralisch lebendig wird Davydovas redliches Projekt allerdings erst am Ende, als die Schauspielerin Marina Weis in einem gestenreichen Monolog eine aktuelle Geschichte von Flucht und russischer Heimatlosigkeit erzählt: „Das ist meine ungehörte Stimme! Könnt ihr sie hören? Sie ist da!“ ruft sie, ehe das Licht ausgeht.
Fiktionales Dokumentartheater: „La Obra”
Weniger pathetisch, aber nicht minder didaktisch brachte der Argentinier Mariano Pensotti mit seiner Grupo Marea „La Obra“ („Das Stück“) im Jugendstiltheater am Steinhof zur Uraufführung. Ein verschachteltes, fiktionales Dokumentartheater über den vermeintlichen Holocaust-Überlebenden Simon Frank, der in einem argentinischen Dorf alljährlich sein Leben während des Kriegs zur Theateraufführung bringt. Nach fast 40 Jahren wird er als ehemaliger KZ-Aufseher enttarnt. Auf einer schlichten Drehbühne, deren Halbrund als Projektionsfläche für Fotos und Videos dient, lässt Pensotti einen libanesischen Regisseur mit einem fünfköpfigen Ensemble die Geschichte des Nazi-Verbrechers darstellen, der das Leben seines jüdischen Opfers nacherzählt, wobei sich die fliegenden Rollenwechsel alsbald in konventionellem Rampenspiel erschöpfen.
Lecture-Performance: „Timescape”
Mit ebenso sparsamen Mitteln und sprunghaft zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselnden Perspektiven erzählt auch der iranische Theatermacher Keyvan Sarreshteh in seinem Solo „Timescape„, uraufgeführt im Theater Nestroyhof Hamakom, über den Prozess des Erinnerns, ausgelöst durch tiefen Verlustschmerz. Wie bei einer Lecture-Performance zeigt er an einem Overheadprojektor Negative von Fotos aus seiner Kindheit und spricht als Zeitreisender wie Samuel Becketts Krapp sein Leben auf Tonbänder, während er sich mittels eines gelben Helms immer wieder in Sarreshteh selbst verwandelt. In einer der wenigen theatralisch berührenden Szenen tanzt er selbstvergessen-still in einem hellen Lichtkegel: angekommen im Hier und Jetzt, die Endlichkeit des Lebens ertragend.
Körperspiel: „Verwandlung eines Wohnzimmers”
Imaginatives Erzählen, das sowohl die Zeitebenen als auch die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen lässt, um unsere aus den Fugen geratene Welt sinnlich erfahrbar zu machen, dominierte auch die Uraufführung „Verwandlung eines Wohnzimmers“ von dem japanischen Theaterkünstler Toshiki Okada mit seiner sechsköpfigen Gruppe chelfitsch und dem Klangforum Wien im Museumsquartier. Präzise zur Musik des japanischen Komponisten Dai Fujikura choreographiert, machte Okada in der gelungensten der vier Uraufführungen mit einem surreal-untergangspoetischen Text und abstraktem, ans Kabuki-Theater erinnernden Körperspiel seines Ensembles die Bedrohung gegenwärtiger Umweltkatastrophen greifbar.
In ihrem mit kargen Sperrholzmöbeln angedeuteten Wohnzimmer sinniert eine Familie über die drohende Delogierung, während vor dem blicklosen Fenster die Welt in Starkregen untergeht. Wie abgetrennt erscheinen die Körperbewegungen vom Sprechen dieser sich selbst und einander entfremdeten Figuren, sie gleichen in Bewegung gebrachten Objekten, die das Gleichgewicht suchen und Gedanken teilen, ohne einander zu berühren. Als eine Art Totengeist betritt schließlich ein vor schwarzem Öl triefender Jüngling die farbig beleuchtete Bühne, die Arme gespreizt wie Vogelflügel, während die fein gesponnenen Klangflächen Fujikuras die Ausbreitung der von den Darsteller:innen imaginierten Löcher in diesem metaphorischen Raum begleiten.
Derart überzeugend korrespondierte bis zur Halbzeit des Festivals die künstlerische Qualität nur selten mit der Dringlichkeit der Themen. Dass ein an Serienformaten geschulter Naturalismus das Theater in seiner Ausdruckskraft beschränkt, zeigte sich sowohl bei Anne-Cécile Vandalems „Kingdom“ über eine Aussteigerfamilie in der sibirischen Taiga als auch bei Kornél Mundruczós und Kata Wébers „Pieces of a Woman“, basierend auf deren gleichnamiger Netflix-Produktion über den traumatischen Verlust eines Kindes. Auch das Strand-Wimmelbild „Sun & Sea“, eine performative Konzertinstallation samt Katastrophengesängen der Litauerinnen Rugilė Barzdžiukaitė (Regie und Bühne) und Lina Lapelytė (Komposition) im Atelierhaus der Bildenden Künste kippte ins Banale – zu ungebrochen nah an der Realität, um Erkenntnisse zu ermöglichen.