Lwiw sucht Theaternormalität
Foto: „Тіні забутих предків“ (Shadows of Forgotten Ancestors) an der Nationaloper Lwiw © Victoria Kvitka Text:Roland H. Dippel, am 12. Dezember 2023
Unser Autor war bei der Aufführung „Тіні забутих предків“ („Shadows of Forgotten Ancestors”) an der ukrainischen Nationaloper Lwiw. Ein Bericht über einen Theateralltag im Ausnahmezustand.
Die Nationaloper Lwiw kündigte die Uraufführung von „Тіні забутих предків“ („Shadows of Forgotten Ancestors”) als das wesentliche Ereignis dieser Spielzeit an. Im slawischen Raum gehört die romantische Liebesnovelle „Schatten vergessener Ahnen“ des ukrainischen Schriftstellers Mykhailo Kotsiubynskyi (1911) zum kollektiven Gedächtnis. Doch von den während der Zugehörigkeit in der Sowjetunion entstandenen Adaptionen dieses und anderer Stoffe will in der Ukraine heute niemand mehr etwas wissen. Der die Gesetzmäßigkeiten des klassisch-romantischen Balletts weiterführende Sowjet-Tanzstil wird heute als Bevormundung und damit Verhinderung einer individuellen ukrainischen Kultur betrachtet. Seit dem Angriff Russlands im Februar 2022 sind alle Ballette mit Musiken und Choreografien russischen Ursprungs aus dem Repertoire ukrainischer Theater verbannt. Desto wichtiger ist es jetzt in der Ukraine, die zwangsläufigen Repertoire- und Spielplan-Lücken mit Neuschöpfungen zu schließen.
Als praktikabelste Form der Anreise auf die Einladung war es naheliegend, dass Ostap Hromysh, Leiter der Internationalen Entwicklung der Nationaloper Lwiw, mich mit dem Auto aus Kosice abholen und nach der zweiten Vorstellung in der Nacht vom 3. auf 4. Dezember zusammen mit dem litauischen Bühnenbildner Arvydas Buinauskas nach Warschau bringen würde. Bahnen und Busse zwischen der Ukraine und dem Ausland verkehren. Aber die Kontrollzeiten an den Grenzen zur Ukraine schwanken und verursachen unkalkulierbare Verzögerungen.
Die Premiere am 2. Dezember hatten wir trotz Anreise im PKW, trotz des Aufbruchs um 10.00 Uhr für ca. 320 km von Kosice nach Lwiw und trotz einer schnellen Grenzüberquerung sowie nur einer weiteren knappen Kontrolle durch die slowakische Polizei nicht geschafft. Grund der verspäteten Ankunft in Lwiw waren die ganz Mitteleuropa heimsuchenden Schneefälle. Die Wartezeit in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember an der Grenze Rawa-Ruska (Ukraine) und Hrebenne (Polen) dauerte drei Stunden. Dort und Richtung polnisches Landesinnere stauten sich LKWs, weil polnische Fernfahrer die Einreise ukrainischer Fahrzeuge verhinderten.
Normalität des Alltags
Erstaunlich ist, dass ein so großes öffentliches Gebäude wie die Oper Lviv an einem zentralen Platz bei öffentlichem Vollbetrieb im Dunkel bleibt und nicht angestrahlt wird. Man will durch nächtliche Beleuchtung keine potenziellen Angriffsziele kenntlich machen. Ein großer, extra für die Oper angeschaffter Generator soll im Ernstfall den Strom bei Ausfall der Fernversorgung gewährleisten. Das Wichtigste aber ist: Alle männlichen Mitarbeiter des Theaters – Chor, Orchester, Ballett, Technik und Gewerke – sind vom Kriegsdienst freigestellt. Intendant Vadym Vovkun räumt allerdings ein: „Wer Soldat werden will, den können wir nicht daran hindern.“
Man möchte trotz des Krieges eine „Normalität des Alltags” – in der Kultur, in den Geschäften und im Leben. Die Vorstellung am 3. Dezember um 17.00 Uhr ist ausverkauft. Dem Ende folgt langer synchroner Applaus des stehenden Publikums. Am Sonntag tanzten Roksoliana Iskra (Marichka) und Maksym Kadykalo (Ivan) das verhinderte Liebespaar in der Romeo-und-Julia-Konstellation zwischen zwei verfeindeten Hirtenstämmen in den Karpaten. Es sind für die zwei ihre ersten großen Solorollen und damit wurde der Abend ein Meilenstein ihrer jungen Karriere. Romana Dumanska als Ivans ungeliebte Ehefrau Palihna erhält mit ihrem akrobatischen Part das Diplom aus einem Tanz-Wettbewerb. Andrii Mykhalikha gestaltet Palihnas Liebhaber, als welcher der Naturgott Chuhaister wieder in die Handlung tritt. Ein glanzvolles Quartett.
Die Choreographie des Ukrainers Artem Shoshyn unterscheidet sich durch die Vielzahl der Sprünge und Hebungen vom Stil der romantisch-sozialistischen Schule, die in Russland bis in die Gegenwart dominiert. Das Tanzcorps spielt Volksmassen, übernimmt auch die Aufgaben von Möbeln und rituell dokumentierenden Figuren. Besonders eindrucksvoll gerät die Szene, in welcher Tänzer als Wellen die ertrinkende Marichka davontragen. In pantomimischen Szenen erhält jede Ensemblefigur des großen Corps individuelles Bewegungsmaterial. Die Gesamthaltung ist energisch, kraftvoll und sehr physisch. Am Pult steht der Ballett-Dirigent Yurii Bervetskyi, setzt mit dem Orchester dramatische, starke, lyrische und schmelzende Akzente in einer pointierten, üppig instrumentierten und zumeist tonalen Partitur.
Gewalt der Liebe
Die Musik auf das Libretto von Intendant Vasyl Vovkun komponierte der auf spartenübergreifende Genres und ungewöhnliche Aufführungsorte spezialisierte Ukrainer Ivan Nebesnyi (geb. 1971). Der Chor der Nationaloper Lwiw und drei Solisten (Anastasiia Kornutiak Iryna Chikel, Yurii Trytsetskyi) sind um die Choreografie im Einsatz. Arvydas Buinauskas setzte auf den Boden und die Wände einen grünen moosartigen Belag. Natalia Mishchenko gestaltete die poetischen bis grotesken Kostüme zwischen Fantastik und stilisierter Folklore.
In unserem Gespräch nach der Premierenfeier mit großem Büffet und Freigetränken sagte Intendant Vasyl Vovkun: „Dieses Sujet zeigt eine Liebe, die über alle Hürden, gegen kleinliche Rivalitäten zwischen den Sippen siegt und über den Tod dauert. Wir hatten das Projekt bereits 2020, also lange vor dem Angriff Russlands geplant. Aber es ist jetzt unter den derzeitigen grausamen, ungewissen Bedingungen von noch größerer Aussagekraft.” Das Projekt wurde von der regionalen Militäradministration Lviv und der Kozytskyi Charity Foundation als öffentlichem Partner gefördert.
Kurz nach dem Ende des Empfangs – gegen 23.00 Uhr – setzt sich Ostap Hromysh ins Auto, um den Bühnenbildner Arvydas Buinauskas und mich an den Startort unserer Heimreise zu bringen. Wir erreichen Warschau am Vormittag des 4. Dezember um 9.00 Uhr. Buinauskas fliegt nach Litauen, ich werde im Ibis-Hotel abgesetzt und nehme einen Tag später den Flixbus Richtung Berlin. Hromysh kümmert sich um die nächsten bürokratischen Vorgänge. Es geht um die Aufrechterhaltung von Normalität im Ausnahmezustand.