Das Theater Regensburg: Fünfeinhalb-Sparten
Foto: Das Theater Regensburg © Marie Liebig Text:Florian Welle, am 1. April 2023
Seit dem Start des Intendanten Sebastian Ritschel arbeiten am Theater Regensburg alle mit allen zusammen: Schauspieler:innen, Tänzer:innen, Sänger:innen und Puppen – sogar das Publikum mischt sich mit Liebesbriefen ein.
Es war einmal ein Stück Holz, das seinen Besitzer anflehte: „Mach mich!“ Und Geppetto machte. Pinocchio taufte er die Puppe, die zwar versprach, in die Schule zu gehen, aber in Wahrheit gar nicht daran dachte. Stattdessen stakst der Kleine los und begegnet allerlei fragwürdigen Gesellen. Fuchs und Kater wollen an sein Geld und knüpfen ihn auf. Im letzten Moment wird er von der blauen Fee gerettet. Er will ihr jedoch weismachen, er hätte seine Feinde selbst in die Flucht geschlagen. Mit jeder Lüge wird seine Nase länger und länger. Bis sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung geht und aus ihm ein echter Junge aus Fleisch und Blut geworden ist, muss er noch viele Irrungen und Wirrungen durchleiden.
Im Jahr 2007 hatte Jonathan Doves Familienoper „Pinocchios Abenteuer“ nach dem Romanklassiker „Le Avventure di Pinocchio“ von Carlo Collodi ihre Uraufführung. Doch so, wie sie in dieser Saison am Theater Regensburg gespielt wurde, hat man das an unterschiedlichen Klangfarben überreiche Werk noch nicht gesehen. Der Clou der Inszenierung von Kerstin Steeb war Johanna Kunze. Kunze ist Puppenspielerin und führte über weite Strecken eine Gliederpuppe mit hellblauen Hosen und rotem Sweater durch die märchenhafte Szenerie. Immer an ihrer Seite Patrizia Häusermann, die dem kleinen Bengel ihre Stimme lieh. Eltern und Kinder sahen Pinocchio also gleich dreifach auf der großen Bühne am Bismarckplatz. Ein Effekt, der die Augen umso mehr zum Leuchten brachte, als Häusermann nicht nur über einen hellen und kraftvollen Mezzosopran verfügt, sondern auch eine erfrischend-jugendliche Präsenz in der schauspielerischen Interaktion mit ihrem hölzernen Gegenüber an den Tag legte.
„Pinocchios Abenteuer“ als Familienoper, inszeniert von Kerstin Steeb. Foto: Marie Liebig
„Theater soll berühren“, sagt Sebastian Ritschel. Der gebürtige Düsseldorfer, Jahrgang 1980, ist seit dieser Spielzeit Intendant und Operndirektor des Theaters Regensburg. Ein „Geschenk“, wie er sagt. Eines, das er dazu nutzen möchte, den Separatismus der Sparten abzubauen und zu zeigen, wie befruchtend es sein kann, wenn Schauspiel, Tanz und Musik eine Einheit bilden. Die Produktion „Pinocchios Abenteuer“ bewies schon einmal aufs Schönste, wohin die Reise an Bayerns größtem kommunalen Mehrspartenhaus geht nach der Interimsintendanz von Klaus Kusenberg und der zuvor fast eine Dekade währenden Leitung durch Jens Neundorff von Enzberg. In Doves Oper spielte neben dem Gesangsensemble und den Musikern des Philharmonischen Orchesters nicht nur die fest ans Haus geholte Puppenspielerin Johanna Kunze eine zentrale Rolle, es agierten auch Tänzer:innen aus der zehnköpfigen Compagnie des neuen Chefchoreographen Wagner Moreira. Es verwundert also nicht, dass Sebastian Ritschel im Gespräch immer wieder vom Theater Regensburg als einem Fünfeinhalb-Sparten-Theater spricht. Mit der halben Sparte, klar, ist Johanna Kunze gemeint, die ihren nächsten Auftritt im Mai haben wird. Da feiert Mischa Spolianskys musikalische Burleske „Alles Schwindel“ Premiere.
Hausinterne Öffnung
Dass sich die Sparten miteinander austauschen und für bestimmte Stücke auch zusammentun, hat Ritschel erstmals am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau erfahren, wo er von 2006 bis 2016 Hausregisseur und leitender Dramaturg war, ehe er als Leiter der Sparte Musiktheater an die Landesbühnen Sachsen wechselte. Wie proben Opernsänger:innen, wie Musicaldarsteller:innen? Wie lernt man einen Schauspieltext, wie wärmt man sich beim Tanz auf? Ritschel ist begeistert, dass die Regensburger Schauspieler:innen bereits den Wunsch äußerten, nun ihrerseits bestimmte Warm-up-Techniken, die sie bei ihrer Zusammenarbeit mit der Tanzcompany kennengelernt haben, in die eigene Probenarbeit zu integrieren.
„Das Spannende ist“, erzählt er, „mit wie viel Respekt mittlerweile alle am Haus aufeinander schauen.“ Und erinnert in diesem Zusammenhang an jene unseligen Zeiten, in denen die Leute vom Musical als diejenigen galten, die zwar vieles können, aber nichts davon richtig. Ein Unding für den mehrfach ausgezeichneten Opern-, Operetten- und Musicalregisseur, dessen im Jahr 2019 entstandene Inszenierung von Stephen Sondheims „Sunday in the Park with George“ bei den Broadway World Germany Awards in acht Kategorien nominiert war. Mit „Putting It Together“ bescherte Ritschel auch Regensburg seinen ersten Sondheim. Seine Inszenierung war die deutschsprachige Erstaufführung der turbulenten Musicalrevue und zog Besucher aus ganz Deutschland, aus Österreich und der Schweiz an.
Die Stadt als Spielort
Der hausinternen Öffnung entspricht ein Spielplan, der von Anfang an darauf ausgelegt war, die Stadt als „wahrhaftigen Spielort“ zu etablieren. Zwar kennt man theatrale Stadterkundungen von vielen Häusern, doch so geballt wie hier dürften sie selten sein. Gleich am Eröffnungswochenende ging es mit Wagner Moreiras Tanzperformance „Massa Mobil“ los. Bekannte und unbekannte Orte wie die Donauinsel oder der normalerweise für Besucher unzugängliche Kreuzgang der Kirche St. Jakob wurden von der Tanzcompany in Plätze der Begegnung verwandelt. Auch in seinen bewegenden Soloabend „I Play D(e)ad“, in dem der gebürtige Brasilianer den Freitod seines Vaters verarbeitete, konnte sich das Publikum mit Zwischenrufen einbringen. Der nächste Tanzabend im Frühjahr basiert dann auf Liebesbriefen, die die Bürger:innen in den vergangenen Monaten einreichen konnten. Schließlich wird die erste Spielzeit mit einem klimaneutralen Projekt enden, bei dem man innerstädtischen Leerraum bespielt. Dieses heißt so wie die ganze Spielzeit überschrieben ist, nämlich „Wahrheiten“. Dafür erhält das Theater als einziger bayerischer Kulturbetrieb eine Förderung aus dem „Fonds Zero“ der Kulturstiftung des Bundes in Höhe von 140 000 Euro. Damit setzt das Haus, das bereits 2022 eine erste Klimabilanz vorlegte und dafür mit dem städtischen Umweltpreis ausgezeichnet wurde, seine Anstrengungen beim Thema Nachhaltigkeit fort.
Querverbindungen herstellen, Barrieren abbauen. Dazu gehören innovative Angebote für Familien wie die Nachmittagsvorstellungen mit professioneller Kinderbetreuung. Dazu gehört aber auch, dass alle Sparten an allen Aufführungsorten spielen, tanzen, singen. So ist das klassizistisch schmucke Haupthaus nicht mehr allein der Musik vorbehalten, die kleine Spielstätte am Haidplatz nicht mehr nur dem Schauspiel, das multifunktionale Junge Theater am Oberen Bismarckplatz nicht mehr ausschließlich Jugendinszenierungen sowie der ertüchtigte Gemeindesaal Antoniushaus, Interimsspielstätte für das wegen Renovierung geschlossene Velodrom, nicht mehr bloß den Tänzer:innen.
Das neue Leitungsteam um Sebastian Ritschel (Mitte). Foto: Jochen Quast
Das Publikum scheint das Programm des neuen Leitungsteams, zu dem unter anderem auch Schauspieldirektorin Antje Thoms, die Leiterin des Jungen Theaters Oda Zuschneid sowie der Kaufmännische Direktor Matthias Schloderer gehören, zu goutieren. Das Theater ist im Durchschnitt zu über 80 Prozent ausgelastet, wovon viele Häuser nach drei Jahren Pandemie nur träumen können. „Ich finde es sensationell, mit welcher Neugierde die Menschen hierherkommen“, sagt Sebastian Ritschel. Dabei kann man nicht behaupten, dass er für seine erste Spielzeit auf Nummer sicher gehen wollte und nur ein klassisches Repertoire anbietet.
Im Gegenteil. Denn Hand aufs Herz, wer kennt schon Gottfried von Einems 1953 uraufgeführte Oper „Der Prozess“, mit der Ritschel in die Saison gestartet ist? Und wer Lorin Maazels Oper „1984“, die am Saisonende auf dem Programm steht? Zwei Dystopien nach den Romanen von Kafka und Orwell, deren Inhalte sich auch im Schauspiel wiederfinden und das Spielzeitmotto „Wahrheiten“ beglaubigen. Etwa in Dennis Kellys düsterem Gedankenexperiment „Der Weg zurück“ oder in Rebekka Kricheldorfs galliger Kultursatire „Fräulein Agnes“, in der die von Katharina Solzbacher fulminant aufgedreht gespielte Hauptfigur für eine radikale Ehrlichkeit eintritt, dadurch zur „Tugendterroristin“ wird und am Ende im sozialen Abseits landet. Immer die Wahrheit sagen oder doch auch mal lügen? Eine Frage, die auch Carlo Collodi in seinem „Pinocchio“ stellt, einem Buch, von dem Umberto Eco einmal gesagt hat, man könne ihm nicht trauen.
Dieser Artikel ist erschienen im Aprilheft 2023. Kritiken der DEUTSCHEN BÜHNE zu aktuellen Inszenierungen am Theater Regensburg finden Sie hier.