Das 1956 eröffnete Theater Münster neben der Fassadenruine des Romberger Hofs

Das Theater Münster: Westfälische Künste

Am Theater Münster setzt das Leitungsteam um Generalintendantin Katharina Kost-Tolmein auf diskursives Theater und aktuelle Themen.

Was für ein Theater braucht Münster? Die katholische Hansestadt ist jung (mehr als die Hälfte der Bevölkerung zählt keine 40 Jahre), studentisch (ein Fünftel der Bevölkerung sind Studierende), grün (mehr als 30 Prozent wählen Grün, 65 Prozent der Stadtfläche ist von Vegetation bedeckt), gebildet (ein Viertel aller Arbeitnehmer sind Akademiker), Fahrradhauptstadt (annähernd 40 Prozent aller Wege werden geradelt) und nicht nur im Giebelhäuser-schmucken Stadtkern sehr reich. Eine solche Stadt verträgt anspruchsvolles, inhaltlich radikal gegenwärtiges Theater, das auf klassisches Geschichtenerzählen setzt, da scheint sich das neue Theaterteam einig und arrangiert für 31 Premieren, darunter 14 Ur- und Erstaufführungen, zwei sich ergänzende Ansätze.

Sie mag es opulent, nämlich große, ganz große Oper, gern aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts; er schätzt es klein, klar, konzentriert, setzt auf zeitgenössische Texte. Generalintendantin Katharina Kost-Tolmein ist die Leiterin des Musiktheaters, Remsi Al Khalisi verantwortet das Schauspiel, zusammen prägen sie seit Sommer 2022 das Fünfspartenhaus. Dessen Architektur war allerdings schwer ein Neuanfangsstrahlen abzuringen. Innen wurde erst mal aufgeräumt, die gläserne Transparenz des Hauses erleuchtet und begonnen, die 1950er-Jahre-Eleganz freizulegen. Allerdings wirkt der um die Fassadenruine des zerbombten Romberger Hofs (Lortzing-Theater) geschwungene erste Nachkriegstheaterneubau Deutschlands weiterhin ziemlich abgenutzt und das untere Foyer abweisend finster. Nur in den Schaukästen kann mit klaren Farbflächen optische Auffrischung betrieben werden.

Katharina Kost-Tolmein

Katharina Kost-Tolmein. Foto: Tolmein

Zeitgenössisches Schauspiel

Zur Idee einer Schauspielsparte als Ort poetisch verklärter Regietheaterzugriffe und performativer Ansätze geht das Theater Münster auf Distanz und forciert die direkte Ansprache aktueller Themen. „Auf den alten Stückekanon setzen, damit kommt man nicht mehr weit bei den Zuschauern, wir müssen daher mutig voranschreiten“, sagt Remsi Al Khalisi. Das bedeute, „klug und sinnlich mit neuen Texten umzugehen“. Mit sinnlich sei „virtuoses Schauspielertheater“ gemeint, und klug bedeute, dem Publikum intellektuell etwas zum Knabbern zu geben. Passend dazu die Auseinandersetzung einer PoC mit der kolonialen Geschichte Namibias sowie den Folgen im Hier und Jetzt. Penda Dioufs Monolog „Pisten …“ inszenierte der Schauspielchef selbst.

Ebenso stark auf den Text konzen­triert ist die Dramatisierung von Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“. In der nüchternen Alltagsbeschreibung der jungen Tschechin Adina werden globale Problemlagen angetippt, dabei schimmert nach und nach die Vergangenheit der Protagonistin durch: Flucht aus der provinziellen Enge des Elternhauses ins ostdeutsche Milieu selbst ernannter Kulturaktivisten, Vergewaltigung und Folter, Flucht nach Finnland. Ein Versuch der Selbstvergewisserung ist das angstvoll mit Schamgefühlen beladene Herantasten an das Grauen. Das Wechselspiel von Ver- und Entdecken übersetzt Regisseurin Isabel Osthues mit dem Auf- und Zuziehen von Brecht-Gardinen. Dabei nutzt sie die Möglichkeiten der Vorlage, angesichts des Ukrainekrieges über die Grenze zwischen West- und Osteuropa nachzudenken.

Bestens funktioniert auch die Zuspitzung der Erzählung als Kampfschrift gegen patriarchale Machtstrukturen mit dem Aufruf, Männer zu töten, die durch sexualisierte Gewalttaten auffallen. Denn Gerichte seien nicht am Schutz weiblicher Opfer und der Wahrheit, sondern nur am Bedienen von Gesetzestexten interessiert. Daher kämen Angeklagte in Vergewaltigungsprozessen überproportional häufig mit einem Freispruch davon. Den Abend darauf zulaufen zu lassen bringt das Thema erschreckend auf den Punkt, ist also höchst diskussionsanregend. Und die Produktion vielleicht schon stilbildend fürs neue Schauspiel: wortlastig und so konventionell wie wirkungsvoll inszeniert, der gut fassliche Diskurs scheint wichtiger als der ästhetische Mehrwert des Theaters.

Generationenverhältnisse

Münster als Stadt des Westfälischen Friedens, also der Kunst der Verhandlungen, ist dem Leitungsteam ein Vorbild fürs Theatermachen. Dementsprechend sollen in der ersten Saison die unterschiedlichen Interessen, Denkarten und Perspektiven von Jung und Alt erörtert werden. „Den roten Faden des Musiktheaterspielplans und die Verbindung zu den anderen Sparten bildet das gemeinsame Thema der Generationenverhältnisse mit all ihren Konfliktpotenzialen“, so Kost-Tolmein. „Was erhoffst du dir für die nächste Generation?“ steht als Spielzeitmotto über dem Haupteingang. Mit der Auseinandersetzung beginnt das Theater bei seinen Ursprüngen, in der Antike. Einen halben Sonntag lang wird die Mutter aller Tragödien befragt, die „Orestie“ (siehe auch hier unsere Onlinekritik). Darin setzt sich Aischylos mit Familie, Schuld und dem Gründungsmythos des Rechtsstaates auseinander. Um das Menschheitsdrama durch szenischen Zugriff fassbar zu machen, setzt Regisseurin Elsa-Sophie Jach erst mal auf Humor: Der Chor der Kleinbürger präsentiert im Wechselspiel mit den Solisten lustige Plaudereien und gestisch-mimische Clownerie. Außerdem schwingen sich die Protagonist:innen zu frischen Analysen ihrer selbst auf. Hervorragend funktioniert Sivan Ben Yishais Iphigenie-Monolog als Prolog – zur Erklärung der Vätergewalt in der Vorgeschichte.

Szene aus der „Orestie“, inszeniert von Elsa-Sophie JachSzene aus der „Orestie“ (Regie: Elsa-Sophie Jach). Foto: Sandra Then

Spartenübergreifende Dramaturgie

Zudem überzeugt, wie in einer spartenübergreifenden Dramaturgie das Generationsthema verarbeitet wird. Eine Gymnasiastengruppe, Fridays-for-Future-Kids, nimmt den finalen Freispruch für Muttermörder Orest nicht hin, sondern verfolgt ihn – will die Elterngeneration für ihre Verfehlungen haftbar machen. Für genau das Gegenteil engagiert sich die junge Generation in der Opernvariante der „Orestie“, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ (siehe auch unsere Onlinekritik hier). Spielerisch verfolgt eine Jugendliche die Aufführung und wirft beim Patt pro und kontra Orest den entscheidenden Stimmstein für Freispruch, positioniert sich also gegen gefühlte Gerechtigkeit, für die Mildernde-Umstände-Justiz. Was auch als Gegenrede zum Impetus des „Blaue Frau“-Abends verstanden werden könnte. Für die Jugend wünscht sich das Theater also wohl die offene Verhandlung widersprüchlicher Positionen.

Künstlerisch ist das „Leben des Orest“ der Höhepunkt des Spielzeitauftakts der Saison 2022/23 – dank der stilpluralistisch und auch mal ironisch klangfeuerwerkenden Musikcollage sowie der Regie Magdalena Fuchsbergers, die die Identitätssuche des Orest im Theatermilieu verankert, das als freigeistiger Ort der Bewusstseinsbildung, aber auch für Revuespaß & Co. gefeiert wird. Während „virtuoses Schauspielertheater“ zum Spielzeitstart noch nicht Ereignis wird, überzeugen die Sänger. Kost-Tolmein setzt auf ein nur siebenköpfiges Ensemble und viele Gäste, um maximal flexibel zu sein. Das erfordere der Spielplan: „Um in Münster gleichzeitig ein vielfach akademisch gebildetes Traditionspublikum mit großem Selbstbewusstsein herauszufordern sowie Jüngere mit einer Vielfalt von Theatererlebnissen anzusprechen, ist unser Musiktheater-Spielplan stilistisch breit aufgestellt, vom Barock-Musiktheaterabend bis zum spartenübergreifenden Stück“, erklärt Katharina Kost-Tolmein.

Wilde Offenheit

Auch vertanzt wird die Debatte um die Selbstjustiz des Orest, der von Schuldgefühlen verfolgt wird, verkörpert durch unterweltlich-furchterregende Furien. Nach ihnen ist die Saisoneröffnungschoreografie der Tanzspartenleiterin Lillian Stillwell benannt. Wie zu einer Raupe sind die Körper des Ensembles ineinander verschlungen, erheben sich als erdverbundene Wesen mit fauchendem Flüstern zu einem animalischen, stampfend aggressiven Bewegungskanon, der wie eine archaische Zeremonie anmutet. Das Kollektiv wütet gegen eine Bühnenbildmauer, dahinter strahlendes Licht, gemeint ist wohl die Drohung des aufgeklärten Wandels vom finsteren Urzustand gelebter Rachelust in die blendende Helle der Zivilisation. Eingepfercht und niedergedrückt in ein Lichtviereck verwandelt sich die Erinnyenbrut schließlich zu Eumeniden, den Wohlmeinenden, gehirngewaschen und ruhiggestellt mit dem Versprechen auf Bürgerrechte, Ehre, Ansehen und Wohlstand. Die Compagnie zitiert nun meditative Haltungen, ihr tänzerischer Ausdruck wird weicher, harmonischer und garniert mit lustigen Hüpfern, klassischem Vokabular sowie zunehmendem Lächeln auf den Lippen. Zum bürgerlichen Glück passt eben eher der Zierrat des Balletts denn die wilde Offenheit des Tanztheaters. Mit einer frechen These wartet also auch dieser sympathische Einstand auf.

 

Szene aus Lillian Stillwells Choreografie "Furien"Szene aus Lillian Stillwells Choreografie „Furien“. Foto: Christina Iberl

Die Aktualität des Stoffes im Jungen Theater konnte niemand ahnen. Sehr präzise und feinfühlig aus Kindersicht wird in „33 Bogen und ein Teehaus“ nach dem Roman von Mehrnousch Zaeri-Esfahani vom unbeschwerten Familienleben der Privilegierten zu Schah-Zeiten im Iran erzählt, die Notwendigkeit der Revolution verdeutlicht sowie die Katastrophe der folgenden Islamisierung mit Kopftuchzwang und dem Verbot von allem, was Spaß macht. Die Forderung „Frau, Leben, Freiheit“ wird auch prompt zum Finale der Aufführung eingeblendet: eine zugängliche, freundliche, eindrücklich Weltpolitik für aufbereitende Inszenierung von Carina Sophie Eberle.

Also alles prima? Schnell noch ein Blick auf das Musical „Aspects of Love“. Darin wird von der jüngeren Generation erwartet, dass sie mit Älteren ins Bett geht, die dann Ärger machen, wenn die Jüngeren auch mit noch Jüngeren erotisch, sexuell, in Liebe anbandeln. Die Story ist nach all den schlauen Stoffen zuvor eher eine Zumutung der Einfalt – und dass nach der Krenek- und vor der „Elektra“-Premiere die Ideenarmut von Andrew Lloyd Webber in orchestralen Pomp gehüllt wird, wirkt nur akzeptabel, weil hier die Gewerke als teambildende Maßnahme stolz mal zeigen können, was alles so geht unterm Lampionhimmel des Großen Hauses. Da schaut man gerne zu – und denkt lieber weiter über die Schauspiele nach.

Dieser Artikel ist erschienen im Januarheft 2023. Kritiken der DEUTSCHEN BÜHNE zu aktuellen Inszenierungen am Theater Münster finden Sie hier.