Das Theater der Altmark in Stendal: Bewusst triggern
Foto: Das sanierte Gebäude © Theater der Altmark Text:Gunnar Decker, am 15. November 2023
Mit Dorotty Szalma ist das Theater der Altmark in Stendal vielversprechend in die neue Saison gestartet. Dabei mutet die neuen Intendantin dem Publikum bewusst viel zu.
Erst geht man über einen blauen, dann über einen roten Teppich oder umgekehrt, je nachdem, von wo man kommt. Sie riechen beide noch etwas penetrant nach Kunststoff. Vielen Zuschauern fällt nur das am sanierten Theatergebäude in Stendal auf – sonst scheint alles beim Alten. Dafür war es jahrelang geschlossen? Dorotty Szalma, seit dieser Spielzeit Intendantin am Theater der Altmark, lacht ein eher müdes Lachen. Die Tage vor der Neueröffnung waren voller Arbeit, die man nun nicht mehr sieht. Darin bestand ihr Ziel: Aus einer Baustelle wieder ein einladendes Theater zu machen. Sie weiß, das geht nicht über Nacht. Neu sei nun vor allem die Bühnentechnik. Und die bleibt dem Zuschauer verborgen, wenn sie denn funktioniert.
Wir gehen über den berühmt-berüchtigten Graben im Foyer, der mit mattiertem Glas abgedeckt ist. Schon vor über zehn Jahren deutete der damalige Intendant Dirk Löschner darauf und sagte, was darunter an Kabeln läge, würde ich gar nicht sehen wollen. Alles marode.
Nun ist alles neu? Vieles ja, aber auf jene diskrete Weise, die zu der gebürtigen Ungarin Dorotty Szalma passt, die zuvor fast zehn Jahre Schauspielintendantin am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau war. Den aktuellen Spielplan für Stendal aber hat noch ihr Vorgänger Wolf E. Rahlfs gemacht, der mit spektakulären Inszenierungen wie „Richard III.“ im leer stehenden alten Kaufhaus von Stendal für Furore sorgte. Wieso aber lässt sie sich von ihrem Vorgänger einen fertigen Spielplan vorsetzen? Weil das Theater der Altmark, das als Landesbühne ein reisendes Theater ist, weit im Voraus seine Produktionen der INTHEGA anbieten müsse. Gastspiele sind im Haushalt fest eingeplant. »
Das sind die Zwänge des Betriebs. Und wie viel künstlerische Freiheit hat sie in ihrer ersten Spielzeit hier, die mit einer eigenen „Medea“ beginnt? Sie konnte sich entscheiden, welchen Text sie inszenieren wollte, den von Euripides, von Christa Wolf oder von Tom Lanoye. Sie habe Lanoyes „Mamma Medea“ gewählt. Weil hier der Medea-Stoff stark vergegenwärtigt wird? Nicht vergegenwärtigt, widerspricht Dorotty Szalma, es bleibe in seiner Grundschicht ein mythischer Stoff. Doch die Strahlkraft archaischer Widersprüche bis in die Gegenwart habe sie interessiert. Auch finde sie, dass der Autor von „Schlachten“ ein genauer Beobachter sei, der nicht die Absicht habe, etwas von der Brutalität des Konflikts abzumildern.
Entschiedene Theaterleiterin
Dafür mache sie Theater. Tragödien seien eine „absolut notwendige Zumutung für die Seele“. Kindsmord bleibt Kindsmord, nicht zu rechtfertigen, nicht zu erklären oder wegzudiskutieren – gerade so in all seiner Unerklärlichkeit müsse man ihn auf die Bühne bringen. Der Schrecken gehört dazu. Ohne ihn keine kathartische Wirkung. In „Mamma Medea“ werden alle Beteiligten schuldig – bis auf die beiden ermordeten Kinder, die sind unschuldig. Ihr gewaltsamer Tod empört. Medea, das ist der Regisseurin wichtig, sei in diesem Stück immer Opfer und Täter zugleich. Sie wird auf unschuldige Weise schuldig, ebenso wie Jason, ihr Mann und Gegenspieler, der als ihr Feind endet. Im Grunde, sagt sie, stehe immer eine Frage im Raum: „Wer sind die Barbaren?“ Eine Rolle, die in der Geschichte immer wieder wechselt.
Dorotty Szalma will die Zuschauer „zu Gefühlen zwingen“, auch extremen – und das ist das Gegenteil der zeitgeistigen Tendenz, „alles in Watte zu packen“. Also keine Triggerwarnung vor einem Kindsmord-Stück? Im Gegenteil, entgegnet Dorotty Szalma, sie mache Theater mit einer einzigen Gewissheit: „Ich will euch triggern!“
Ihre zwölfjährige Tochter spielt eine der Töchter von Medea und Jason. Wie hat sie diese auf die unfassbare Tat am Ende vorbereitet? Natürlich hätten sie viel über den Tod gesprochen, sagt Szalma. Aber neu sei das nicht, auch Märchen seien ja voller Grausamkeit und Tod. Die kindliche Fantasie lernt damit umzugehen, dem etwas anderes entgegenzustellen: Liebe, Glück und die Frage, was eigentlich gerecht sei. Wer Fantasie entwickelt, der kann sich eine eigene Welt erschaffen. Tumbe Naturen dagegen spüren den Schmerz, den sie anderen zufügen, nicht einmal.
An den Wänden des Foyers hängen bereits die Bilderrahmen für künftige Inszenierungsfotos. Jetzt kann man dort provisorisch angebrachte Sprüche lesen, etwa: „Mir gefällt der Braten, aber mit dem Rauch kann ich nichts anfangen.“ Ist das nun, auf das Theater bezogen, Ausdruck purer Ignoranz oder aus tiefer Lebenserfahrung heraus gesagt? Natürlich, das Ergebnis zählt – aber was ist mit dem Weg dahin, ist er mehr als bloßer Rauch, der verfliegt?
Harter Stoff
Die zweite Vorstellung von „Mamma Medea“ ist nicht ganz ausverkauft. Aber Szalma will, nach Jahren von Ersatzspielstätten und Coronapausen, um die Rückkehr der Zuschauer kämpfen. Ist „Medea“ vielleicht ein zu harter Stoff, um als Einladung verstanden zu werden? Nein, es gehe nicht um leichte oder schwere Stoffe, sondern um die Intensität des Spiels. Sie setzt auf die Motivation der Schauspieler, die stehen schließlich auf der Bühne. Dorotty Szalma hat niemanden aus dem Ensemble entlassen, es sogar von zehn auf vierzehn feste Stellen vergrößert. Dafür kann sie jetzt aber keine Gäste mehr bezahlen.
„Was richtet dieses Land bloß mit mir an?“ Das ist ein Satz, der gleich zu Anfang gesagt wird – ein Leitmotiv für alle Beteiligten in „Mamma Medea“. Die Bühne von János Mira und Sofia Mazzoni wirkt wie eine Mischung aus Abrissgebiet samt bröckelndem Putz und Baustelle mit flatternden Folien. Ein Niemandsort in den Augen von Neuankömmlingen. Solchen wie Jason, der aus Griechenland nach Kolchis kommt, um das Goldene Vlies, das Zauberfell eines Widders, zu rauben. Medea, die Tochter des Königs von Kolchis, der man Zauberkräfte nachsagt, hat sich bis zur Blindheit in ihn verliebt und hilft ihm nun dabei. Sie wird schuldig, verrät ihren Vater, tötet ihren Bruder und flieht mit Jason nach Korinth. Doch Jason, der wendige Grieche, versucht seine Lage zu verbessern, indem er die Tochter von König Kreon heiratet. Medea mit den Kindern stört diesen gewollten Neuanfang – sie sollen fort.
Die großartige Susan Ihlenfeld spielt Medea mit aller archaischen Kraft einer Zauberin, der sich niemand entgegenstelle, und zugleich mit dem überwachen Instinkt einer maßlos liebenden Frau, die spürt, wenn sie bloß noch Ballast ist. Paul Worms’ Jason dagegen ist der „moderne“ Grieche, der mit Eloquenz alles zum Verhandlungsgegenstand erklärt, ein Manager der Macht. „Aber ich bin schuldig für dich geworden!“ – so Medeas Schrei, der ungehört verhallt. Am Tod der beiden Kinder tragen dann Medea und Jason gleichermaßen die Schuld. Tom Lanoye lässt in seiner Fassung Jason eines der Kinder eigenhändig töten. Dorotty Szalma fasst es so zusammen: „Das Stück ist ein Kaleidoskop grenzenloser Emotionen.“
Weitere Premieren
Tags darauf hat „Shockheaded Peter“ Premiere, das Musical der Tiger Lillies nach Motiven von „Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann. Auch hier geht es um den Tod von Kindern, solcher, die man einst „ungezogen“ nannte. Hoffmanns Buch galt bei seinem Erscheinen 1845 als Erziehungsbuch – und der Stock war das Alleinheilmittel für alle „bösen, bösen Buben“. Die Folgen: jederzeit drastisch für Daumenlutscher, Suppenkasper oder Zappelphilipps – aber eben auch komisch. Das Erfolgsmusical verwandelt den Schrecken ins Groteske.
In der Regie von Geertje Boeden droht die Inszenierung jedoch aufs falsche Gleis zu geraten. An den Bühnenwänden (Ausstattung: Mark Späth) erkennen wir Max Schreck, seine legendär gewordene Dracula-Silhouette aus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich Wilhelm Murnau. Aber um Vampirismus geht es hier nicht. Dies hier ist eine deutsche Gruselgeschichte, ersonnen in braven Kleinbürgerhirnen. Anfangs tun sich Patricia Hachtel, Fynn Zinapold und Lukas Franke zusammen mit Niclas Ramdohr am Akkordeon etwas schwer, dem Struwwelpeter-Abgrund in uns seinen ganz eigenen Witz und Tempo zu geben. Der Triggermotor stottert. Doch nach und nach gelingt es dann, die furiosen Gesangsnummern werden immer mehr zu Befreiungsschlägen, bis hin zu „Fliege, Robert“. Des Jungen grüner Regenschirm trägt ihn im Sturm davon, „niemand sah ihn wieder“.
Doch, ein Wiedersehen steht an, spätestens, wenn Johanna Schall „Das große Heft“ von Ágota Kristóf im Januar auf die Stendaler Bühne bringt, rund um die drängende Frage: „Wie kommt der Krieg ins Kind, und wie kommt er da wieder raus?“ Ein vielversprechender Anfang der neuen Intendanz am Theater der Altmark.
Dieser Artikel ist erschienen im Augustheft 2023 der DEUTSCHEN BÜHNE.