Zu sehen ist eine Collage aus Szenen von „Die Geschichte des Auges/História do Olho”

Nackter Widerstand bei „¡Adelante!”

Die dritte Ausgabe des iberoamerikanischen Theaterfestivals „¡Adelante!“ am Theater Heidelberg zeigt bei aller Fremdheit eine dringliche Nähe: Nichts als der Körper und die Stimme dienen den Künstler:innen zum Protest. Dabei sind uns ihre Probleme weitaus näher, als wir glaubten.

Ein anschwellender Gesang, gleich einem Mantra, erfüllt den Raum. Ganz so, als könnte er wirklich all die bösen Geister übertönen, die die Protagonist:innen zuvor während eines nächtlichen Streifzugs durch die Stadt in Flaschen eingefangen haben. Und diese gibt es heute noch zuhauf in dem sozial und politisch gebeutelten Andenland Chile. Wohl auch deswegen scheint die Kunst, wie Trinidad González’ Stück „Espíritu“ (Geist) veranschaulicht, so unbequem und dringlich.

Dass sich ihre Kraft zum Widerstand auch in vielen anderen Ländern offenbart, davon kündet der leidenschaftliche Aufführungsreigen des dritten iberoamerikanischen Theaterfestivals ¡Adelante! am Theater und Orchester Heidelberg. Sei es Chela De Ferraris peruanischer „Hamlet“ mit Darsteller:innen mit Downsyndrom oder sei es die sämtliche Tabus des Sexfilmbusiness ausstellende und entlarvende Realisierung „História do olho – Um Conto de Fadas Pornô-Noir“ (Die Geschichte des Auges – Ein Porno-Noir-Märchen) von Janaina Leite aus Brasilien – sichtlich geht es den Kuratoren des Programms, Ilona Goyeneche und Jürgen Berger, um die kritische Reflexion kulturell verhärteter Grenzen.

Szenenbild aus „Schwarze Morgenröte/Aurora Negra" aus Portugal

„Schwarze Morgenröte/Aurora Negra“ aus Portugal. Foto: Filipe Ferreira

Insbesondere jene zwischen den Hautfarben könnte man als den roten Faden zwischen den verschiedenen Bühnenwerken beschreiben. Nachdem beispielsweise die schwarzen Künstlerinnen Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema nach Portugal emigrierten, sahen sie sich mit vielfältigen Diskriminierungen, allen voran frivol-sexistischer Natur, konfrontiert. In ihrem Stück „Aurora Negra“ (Schwarze Morgenröte) schleudern sie die zumeist westlichen Vorurteile einem nunmehr westlichen Publikum entgegen. Leider mit einem etwas zu proklamatorischen Gestus, der sichtlich auf Kosten einer um innovative Bilder bemühten Theaterästhetik geht. Es steht eben ganz das politische Anliegen im Zentrum. Um zu zeigen, dass sie sich in der neuen Umgebung nicht unterkriegen ließen, präsentieren die Spielerinnen uns zu Beginn – unterhalb einer großen, schwebenden Stammesmaske – Gesänge und Tänze ihrer Herkunftskultur. Diese souveräne Verteidigung der eigenen Herkunft zieht sich indessen ebenso durch andere Werke. Gerade weil die folkloristische Andenkultur zunehmend an den Rand gedrängt wurde, reaktiviert sie der indigene Performer Tiziano Cruz in „Soliloquio“ (Soliloquium) umso deutlicher.

Seinem eigentlichen Monolog über eigene Repressionserfahrungen durch die argentinische Mehrheitsgesellschaft stellt er daher einen Tanzumzug aus seiner Heimatregion voran. In den Straßen vor der Spielstätte Zwinger wird man daher kurzzeitig eines bunten Farben- und Liedkosmos gewahr. Danach verfinstert sich die Stimmung hingegen deutlich. In Briefen an seine Mutter berichtet Cruz auf der Bühne von einer „Ökonomie der Gewalt“, einem auch die Institutionen der Kunst in Beschlag nehmenden inhumanen Kapitalismus, der genauso wie die Regierungspolitik Minderheiten massiv zu unterdrücken weiß.

Passend dazu geriert sich der Performer am Ende seiner Inszenierung im Schafspelz, umgeben von imaginären Wölfen. Wo sie präsent sind, bleibt nur Zerstörung zurück. Blut läuft daher am Ende an der hinteren Leinwand herab. Als letzte Bastion der Gegenwehr fungieren hier nur zwei Elemente: zum einen die Stimme. Mit ihrer Hilfe spricht sich der Protagonist förmlich frei, löst sich aus dem engen Korsett, das ihm und seiner Familie seit Jahrhunderten umgebunden wird. Trotz Cruz’ bisweilen ein wenig zu pontifikal anmutenden Reden kann er durchweg überzeugen, weil all seine Gefühle und Ängste, seine Trauer und Energie auf einem authentischen Selbstbild beruhen. Alles, was er ist und hat, wirft er in die Waagschale. Als zweites Widerstandsinstrument kommt der Körper hinzu. Und zwar in seiner bloßen Nacktheit.

Schlussapplaus beim „¡Adelante!“-Festival in Heidelberg

Schlussapplaus für „Schwarze Morgenröte/Aurora Negra“ beim „¡Adelante!“-Festival in Heidelberg. Foto: Susanne Reichardt

Ähnlich wie in „Aurora Negra“, wo eine der Akteur:innen mehrfach barbusig zu sehen ist, präsentiert sich der Performer nur in Unterhose und einmal sogar gänzlich hüllenlos. In diesen Momenten fällt die vierte Wand. Statt einer Rolle erblicken wir dann den Menschen in seiner existenziellen Verletzlichkeit. Er fungiert dabei als Träger einer unverstellten Wahrheit, die wiederum den Kontrast zu auf Repression und propagandistischer Täuschungspolitik beruhenden Regimen ausmacht. Auf einmal begegnet uns die Bühne somit nicht mehr als Illusionsraum. Im Gegenteil, sie bietet ein Forum für die Dokumentation des echten, brutalen und schonungslosen Lebens.

Mit Nacktheit spielt ebenfalls die Gesellschaftssatire „Ese Boker en el campo del dolor“ (Boker im gelobten Land des Leids) von Víctor Hernández. Allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Denn in dieser mexikanischen Produktion setzen die Spieler:innen ihre entblößten Körper nicht als Projektionen des ihnen angetanen Leids, sondern durchaus als Waffe ein. Ein Mann schwingt unter einem Frauenkleid mit seinem Penis, in anderen Szenen präsentieren als Soldaten Verkleidete ihre sexbereiten Hintern, die sogleich von anderen Truppenmitglieder tierähnlich genutzt werden. Härter und klamaukiger könnte eine provokante Persiflage auf das Militär, das in der Wirklichkeit gnadenlos agiert, nicht ausfallen. Angeleitet von einem korrupten Präsidenten richtet es sich gegen Jugendliche, die ihr Auskommen mit Drogengeschäften finanzieren müssen. Zwischen rasanten Tanzeinlagen und munterem Slapstick auf der einen sowie einer pathetischen, spirituell aufgeladenen Kultur rund um Tod und Bestattung auf der anderen Seite (ein riesiger Beerdigungsaltar befindet sich im Hintergrund) gelingt dem Ensemble eine imposante Auseinandersetzung mit einem Land in schwerer Identitätskrise.

Szenenfoto aus „Boker im gelobten Land des Leids/Ese Boker en el campo del dolor" aus Mexiko

Aus Mexico: „Boker im gelobten Land des Leids/Ese Boker en el campo del dolor“. Foto: Raúl Kigra

Jenseits der sozialen und ethnischen Konflikte schlägt diese sich auch auf Ebene letzthin archaischer Geschlechterverhältnisse nieder. So muss ausgerechnet die einzige Frau der Gruppe, Samantha Chavira, in einer aberwitzigen Szene das einstige und umstrittene Staatsoberhaupt Plutarco Elías Calles verkörpern. In eine gigantische Fahne eingehüllt bewegt sie den Mund zu einer männlichen Stimme, die von einer mystischen Figur Heilung und Erlösung erbittet. Doch diesen Kult um eine männliche Heiligkeit hat die Frau allmählich satt. Unversehens tritt sie kurzerhand vors Publikum und begehrt gegen die althergebrachten Gender-Stereotype auf. Sie wolle zukünftig weder eine unmoralische Politfratze mimen noch „irgendeine Schlampe, die wieder die Scheiße wegwischen muss“. Aber wer wird schon seine Dämonen los? Sind die Gespenster erst in der Welt, kann man sie nur schwer beseitigen. Auch aus diesem Grund dürfte ein Zottelwesen mit einer Art Werwolfmaske den ganzen Abend begleiten. Als eine Art Laurel-und-Hardy-Figur wirkt es wie ein erheiternder und zugleich alles polemisierender Narr, inmitten einer Gesellschaft, die sich stets des eigenen Untergangs bewusst ist.

Man kann es nicht bestreiten: Depression und Verzweiflung bilden den Grund zahlreicher Stücke der theatralen Tour de Force bei diesem unverwechselbaren Heidelberger Festival. Jedoch fungieren sie nur als Anlass für ein umso stärkeres Empowerment. Nachdem ihre kulturellen Wurzeln immer wieder Diskriminierungen ausgelöst haben, bieten sie den Figuren nun die Möglichkeit zur Selbstbehauptung. Die scheinbare Schwäche wird zur Stärke umgekehrt – eine Strategie, die das Wort nicht den Hetzern überlässt.

Können auch wir etwas daraus lernen? Dem Intendanten des Theaters und Orchesters Heidelberg, Holger Schultze, zufolge: Ja! In seiner Danksagung hebt er hervor, dass das Festival in diesem Jahrgang vor allem im Zeichen einer diversen Gesellschaft stand. Bedroht sieht er sie längst nicht ausschließlich im iberoamerikanischen Raum. Vielmehr zeugt auch der aufstrebende Rechtsnationalismus in Europa von einer Infragestellung unseres pluralen Miteinanders. Das Ringen um Menschenrechte, mithin Gleichheit und Freiheit des Individuums, wie es die Schauspieler:innen dieses Festivals mit vollem Einsatz betreiben, es wird auch uns zum Gebot. Die Forderung an das Publikum lautet daher: Seid wachsam! Jene an das Theater ließe sich wohl so wiedergeben: Habt den Mut, rebellische Ästhetiken zu erproben.

„¡Adelante!“, das Festival des Theaters Heidelberg fand zum dritten Mal statt. Es zeigte vom 3. bis zum 10. Februar 12 Inszenierungen aus zehn Ländern.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 2/2024.