Theater Aachen: Ein lernender Organismus

Mit einer neuen Führungsmannschaft setzt  Elena Tzavara in ihrem ersten Intendanzjahr 2023/2024 am Theater Aachen neue Impulse. Ein Novum: Sie startet ohne Kündigungen in den Ensembles.

„Komm doch erst mal rein“, steht auf den ersten Seiten des Saisonheftes, groß und auf neongelbem Grund. „Neongelb knallt! Gelb ist die Farbe der Stadt und trifft ins Herz“, sagt Elena Tzavara und lächelt – und es macht sichtbar. Die neue Farbe des Theaters sieht man neuerdings überall in Aachen, sie ist fast ein Symbol für jenen Transformationsprozess, den Elena Tzavara anstoßen will, gleich im ersten Intendanzjahr.

Synergien schaffen mit der Stadtgesellschaft will sie unbedingt, das ist ein Hauptanliegen. Zum Beispiel mit stetiger Präsenz in den Hochschulen, wo immerhin ein Viertel der Stadtbevöl­kerung beheimatet ist, mit Collabs mit den Social-Media-Kanälen der Hochschulen, sogar mit einer „Hochschulsportshow“ der RWTH-Hochschule und der FH Aachen, die im April erstmals auf der Bühne des Theaters stattfand. Oder mit der Umwidmung des Mörgens, früher eine kleine Spielstätte für Experimente und Kammerstücke, jetzt eine Art Kraftwerk der Partizipation. „Spielraum für Alle“ steht auf der Tür, natürlich in Neongelb. Hier gibt es „Aachen’s Got Talent“, eine Show, wo „kreative Köpfe aus der Stadt und dem Theater“ ihre „überraschenden Talente“ zeigen, oder „Mörgens Lab“ eine vom Ministerium NRW bereits lange geförderte Reihe von Wissenschafts-Workshops. Urban Gardening hat Elena Tzavara schon in der Jungen Oper in Stuttgart ausprobiert, aber im Hof des Mörgens, wo jetzt auf den ehemaligen Parkplätzen Hochbeete stehen, klappt es besser, sagt die Intendantin.

Schwieriger Saisonauftakt

Auf der Bühne lief es am Anfang der Saison noch nicht ganz rund, bei guten Zuschauerzahlen. „King Arthur“ nach Purcell punktete zwar mit der großen, spartenübergreifenden Besetzung, den zugefügten Texten von der Lyrikerin Kae Tempest und einem großen Impuls zum Schluss. „Liebt mehr“ war auf plötzlich ausgerollten Bannern überall im Theater zu lesen und flutete den Ort mit positiver Energie. Aber die Geschichte blieb blass in der Inszenierung von Marco Štorman, und die zu sehr gekürzte Stückversion beraubte den Stoff seiner Dramaturgie und seines Witzes. „Hamlet“ in der Regie von Laurent Chétouane hingegen: Langsam wird das Stück entblättert, es fehlt nichts, es wird atemberaubend gut gesprochen, aber das Stück endet einfach im dritten Akt, nach der „Mausefalle“. Drei Stunden sind rum, der Regisseur ist nicht fertig geworden.

Elena Tzavara gibt zu: „Auf die nicht zu Ende erzählte Geschichte waren weder die Aachener und Aachenerinnen noch wir vorbereitet.“ Aber es gab einen Fankreis, der die letzte Vorstellung feierte, und das nachtkritik-Theatertreffen führte die Produktion in seiner Longlist auf.  Zum Erfolg ohne Wenn und Aber wurde Puccinis „La Bohème“, per Übertitel zeitlich „nach dem Klimawandel“ eingeordnet, lebt die Inszenierung von Blanka Rádóczy von ihrer Leichtigkeit. Es gibt keine Kälte, kaum Todesnähe, die Szenen im Café und der Männer-WG haben auf einmal Witz, es wird vorzüglich gesungen von einem jungen Ensemble, und das Orchester klingt angenehm durchhörbar, die Musik wird gefeiert.

Was auffällt an diesen drei Anfangsaufführungen, ist die Qualität der Ensembles, trotz oder wegen der vielen bekannten Gesichter. „Ich habe keinen Kahlschlag betrieben“, erklärt Tzavara, weder auf der Bühne noch in den anderen Abteilungen. „Natürlich ist es nicht ganz einfach, denn die anderthalb Jahre Vorbereitungszeit der Intendanz waren definitiv zu kurz. Wenn man sich noch nicht kennt und nach 18 Jahren der alten Intendanz plötzlich auf eine ganz andere Führungskultur trifft, dann ist das für die Mitarbeitenden am Haus, die schon lange da sind, nicht ganz einfach. Das muss sich erst einmal zurechtruckeln. Für mich ist es wichtig, neue Begegnungsräume zu schaffen und neue Formate zu denken. Diesen Weg mit mir zu gehen und den Spaß, Neues zu kreieren, bedeutet, dass wir uns gemeinsam am Haus erst einmal aufeinander einstellen müssen. Das erfordert Zeit. Hier muss ich natürlich im ersten Schritt viel Vermittlungsarbeit leisten. Aber das macht mir bislang auch sehr viel Freude. Humor ist dabei ein entscheidender Faktor.”

Raumprobleme

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist die räumliche Struktur am Theater Aachen: „Im Theater sind nur Technik, Maske, Requisite, Bühne und der Chor untergebracht. Alles andere ist im Mörgens, und der Orchesterproberaum ist wieder woanders. Die Kollektive trifft man nur in der Probe.“ Das ist anders als bei ihren bisherigen Leitungsstationen, bei der Kinderoper Köln, den überregionalen Festivals „Musik in den Häusern der Stadt“ und „Literatur in den Häusern der Stadt“ sowie der Leitung des JOiN, der Jungen Oper im Nord und dem Internationalen Opernstudio der Staatsoper Stuttgart. „Auf dem kurzen Dienstweg kann in Aachen weniger gut gearbeitet werden. Eine neue nahbare Führungskultur oder eine neue Stimmung im Haus zu etablieren erfordert daher viel Manövrierfähigkeit meinerseits und einen gut strukturierten Terminkalender, um niemanden außer Acht zu lassen. Ich erkläre für gewöhnlich nicht, außer bei diesem Interview, wie ich führe, sondern mache es vor.“

Intendantin Elena Tzavara. Foto: Matthias Baus.

Künstlerisch ist das Haus weitergekommen im ersten halben Jahr. Die Abstimmung unter Tzavara, dem schon länger in Aachen wirkenden GMD Christopher Ward, Schauspielleiterin Kerstin Grübmeyer und Isabelle Becker, der Chefdramaturgin im Musiktheater, funktioniert. Es gibt interne Vor- und Nachgespräche zu jeder Produktion, auch um das Haus zu beteiligen am Produktionsprozess. Die Auswahl von Stücken und Regieteams richtet sich nach zwei Kriterien. „Wie verträgt sich der Stoff, das Sujet, zum möglichen Produktionsteam, und wie verträgt sich das Haus mit dem Regieteam?“, fragt Elena Tzavara. Sie will weder das Theater noch sein Publikum überfordern.

Dazu liefert ein Motto, eine Spielzeitfrage, ein Korsett, einen „inhaltlichen roten Faden“. Im ersten Jahr ist das „Was ist Europa?“ Beim „Gastmahl“ nach Plato ist das Produktionsteam beispielsweise ungarisch, bei der sehr erfolgreichen Opernproduktion „Reise nach Reims“ von Rossini werden Nationalhymnen gesungen. Und Reims ist außerdem eine Partnerstadt von Aachen, was zum Motto des nächsten Jahres überleitet: 200 Jahre Theater Aachen. „Groß gefeiert auch in den Formaten, Anker setzen, zum Haus, zu den Aacherinnen und Aachenern, zu den Örtlichkeiten. Ein großes Fest der Begegnung in der Stadt soll die Jubiläumssaison 2024/25 werden“, freut sich Elena Tzavara.

Zukunftsthemen und tolles Theater

Die Produktionen im Frühjahr bieten dazu einen Vorgeschmack: „Die Kunst der Freude“ nach dem hierzulande unbekannten Roman von Goliarda Sapienza erzählt die Geschichte von Modesta, die sich nimmt, was sie will, auch die Liebe. Die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts läuft dabei fühlbar nebenher. Die Regisseurin Anaïs Durand-Mauptit führt das Ensemble genau und vor allem zusammen, Ausstattung und Licht verschieben die Handlung ins Magische. Der Zuschauer bleibt berührt und bewegt zurück.

Noch außergewöhnlicher gelang „House of Karls“ von Dlé. Die Gruppe um den Regisseur Florian Hertweck, den Aachener Schauspieler Tim Knapper und den Aachener Musiker Malcolm Kemp macht Rap-Theater mit kurzen Versen und witzigen Endreimen. Der Fluss der Musik erscheint wie eine spielerische Befreiung für die fünf Schauspieler:innen. Im steten Rollenwechsel entsteht die Geschichte des Aachener Local Hero Karl der Große. Gleichzeitig wird sein Mythos dekonstruiert und die Wissensinstrumente Geschichtsschreibung und -wissenschaft werden witzig angezweifelt. Mit einer bunten, fantasievollen Ausstattung und sehr viel positiver Energie.

Ein „lernender Organismus“ soll das Theater sein, sagt Elena Tzavara, sich weiterentwickeln und Entwicklungen aus der Gesellschaft aufnehmen. „Der demografische Wandel hat sich extrem beschleunigt. Neue Diskurse und Haltungen sind vor allem den jungen Menschen wichtig. Zum Beispiel Themen wie Achtsamkeit, Gendergerechtigkeit, Familientauglichkeit und Diversität. Das sind alles gesellschaftliche Diskurse, die auch im Theater verhandelt werden müssen. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass das Theater eine sinnlich erfahrbare Wirkungsstätte ist. Wir lernen aneinander und miteinander und können so Räume gestalten, deren Kraft sich im Moment entfaltet. Das ist ein ganz großes Geschenk und ein Privileg!“ Wir sind gespannt, wie der „Transformationsprozess“ weiterläuft und ob es das Haus wirklich schafft, das junge Publikum zu aktivieren. Ein sehr mutiger Anfang ist gemacht.