Bilanz des Münchner Krisengefüges
Foto: „Praxis-Panel“ zum Abschluss der Tagung mit Stephanie Metzger (Redaktionsleitung SWR2 Kultur), André Bücker (Intendant des Staatstheaters Augsburg), Janina Benduski (Programmdirektorin des Performing Arts Programm des LAFT Berlin), Johannes Lange (ensemble-netzwerk) und Claudia Schmitz (Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins) © Tamara J. Quick Text:Ulrike Hartung, am 30. April 2024
Ein Tagungsbericht von der Abschlusskonferenz der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste” am 25. und 26. April 2024 in München.
Der Soziologe Reinhart Koselleck hat die Krise zum Signum der Moderne schlechthin erklärt: In Zeiten tiefgreifender sozialer Umbrüche und manifester Krisen ist dementsprechend die Nachfrage nach umfassenden Analysen dieser Umbrüche groß. Die Ballung gesellschaftlicher Krisenmomente, wie wir sie erleben, hat die kritische Reflexion dieser Zustände in Bewegung versetzt. Die Forschung wird beauftragt, ihre Strukturmerkmale und Dynamiken zu untersuchen, nicht zuletzt mit der Hoffnung, Wege aus der krisenhaften Entwicklung aufgezeigt zu bekommen.
Vor diesem Hintergrund erforscht die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ in sieben Teilprojekten seit 2018 den institutionellen Wandel in den darstellenden Künsten. Die nun erfolgte Abschlusstagung versammelte ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in Vorträgen und bot in offenen Diskursformaten Raum für ihre Diskussion, aber auch für Begegnungen von Akteur:innen der Szene, Kulturpolitiker:innen sowie einer Theateröffentlichkeit allgemein mit den beteiligten Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Theater- und Musiktheater-, Politik- und Arbeitswissenschaft sowie Kulturmanagement.
Freis Theater, Stadttheater, internationales Theater
Die Tendenz des Diskurses zum Theater Informationen allzu leicht mit Erregungszuständen zu verknüpfen, was eher zu polarisierenden Standpunkten als zu übergreifendem Verständnis gesellschaftlicher und historischer Entwicklungen führt, generiert ein intensiviertes Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Analysen – was sich nicht zuletzt im breiten Publikum der zweitägigen, durch Dichte, Anzahl und Dauer der verschiedenen Formate durchaus fordernden Veranstaltung widerspiegelte.
Die Auseinandersetzungen der Forschung, die in ihrem interdisziplinären Setting immer wieder die zahlenbetonte Empirie der Sozialwissenschaft mit spezifischem Wissen zu theaterästhetischen Zusammenhängen kombinierte, setzte sich über die Vorträge weit hinaus in Tischgesprächen, aber auch in den Pausen fort. Von zentralem Erkenntnisinteresse (aber keineswegs darauf beschränkt) waren die Themenbereiche der Corona-Pandemie und ihre Folgen (insbesondere hinsichtlich Publikum), des Formatbegriffs im Kontext von Theater, aber auch die besondere Berücksichtigung von Musiktheater als spezifische Form darstellender Kunst als auch Freies Theater als vermeintliche Opposition von Stadt- und Staatstheatern.
Diese Themen wurden zudem in einen Kontext von zunehmender Internationalisierung gesetzt: Die weltweit einzigartige deutschen Theaterlandschaft wurde unter der Frage, wie Theatersysteme und ihre Entwicklungen im (europäischen) Ausland aussehen, betrachtet bzw. eruiert, was aus diesem Vergleich produktiv zu machen wäre für lokale Szenen. Aber auch: Welche Strategien von Internationalisierung (und auch der Globalisierung/Glokalisierung) zeigen sich innerhalb des deutschen Systems? Wie kann Theater nicht nur Schritt halten mit der Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse einer internationalisierten und globalisierten Welt, sondern gleichfalls als Reflexionsagentur für eben diese Prozesse agieren?
Theaterwissenschaft und Theaterpraxis
In einem Panel mit Personen der Praxis zum Ende der Tagung wurden viele dieser Fragen aus theaterpraktischer Perspektive diskutiert: neben Fragen z.B. nach der tatsächlichen Realität des omnipräsenten Diskurses zum „Publikumsschwund“ und der quantitativen Perspektive darauf wurde insbesondere auch die qualitative Zusammensetzung von Publika hinterfragt: Müssten neben diesen Zahlen, die immer stark kontextualisiert und im Detail betrachtet werden sollten, nicht auch andere Kategorien entwickelt werden, die den Erfolg und die Qualität von Theater darstellbar machen?
Gleichzeitig wurde das in den Vorträgen beschriebene Strukturnarrativ der Opposition von öffentlich getragenem und frei produzierten Theaterkontexten unmittelbar bedient: während einerseits düstere Zukunftsszenarien mit „Abbruchkante“ und sich weiter zuspitzender Prekarität im Freien skizziert wurden, pries man andererseits das (Staats-)Theater als „paradiesischen Ort“, an dem schlicht alles möglich sei – auch die Kooperation. Trotz aller Polaisierung zeigte sich darin wenn noch kein unmittelbarer Dialog so doch in jedem Fall Dialogbereitschaft, sich über die gemeinsamen Problemfelder und Diskurslagen auszutauschen – nicht zuletzt gemeinsam mit der Wissenschaft.
„Die Theaterwissenschaft hat zwei Feinde: Das Theater und die Wissenschaft.“ So begann der Sprecher der Gruppe Christopher Balme einst seine einschlägige Einführung ins Fach. Die Tagung hat gezeigt, dass dies immer noch einen Funken Wahrheit in sich trägt – aber nicht unüberwindbar ist. Trotz zahlreicher Hürden waren die Wissenschaftler:innen der Gruppe hochmotiviert, sich nicht nur den Methoden anderer Disziplinen zu öffnen, sondern auch intensiven Zugang zum Theater, seiner Praxis und ihren Praktiker:innen zu suchen – und auch zu finden. Umgekehrt sucht die breitgefächerte Praxis nach belastbaren Antworten auf ihre dringlichen Fragen. Im Dialog über die Dynamiken von Veränderungsprozessen konnten sich so Netzwerke bilden, deren Akteur:innen das Potenzial haben, große transformative Kräfte zu entfesseln.
Die Ergebnisse werden in einem Sammelband zur Tagung unter gleichem Titel 2025 auch in schriftlicher Form vorliegen. Bis dahin bietet die Gruppe zahlreiche Publikationen, die aus den Teilprojekten aber auch übergreifend aus der Arbeit der Forschungsgruppe hervorgehen. Eine Auswahl der jüngsten Erscheinungen findet sich hier.
Ulrike Hartung, die Autorin dieses Textes, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt 5, Beharrungs- und Bewegungskräfte: Musiktheater im institutionellen Wandel. Sie promovierte im Graduiertenkolleg Musik und Performance am Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau (fimt) an der Universität Bayreuthund schreibt auch regelmäßig für DIE DEUTSCHE BÜHNE.