Provokation mit System
Foto: Florentina Holzinger © Annette Hauschild/Ostkeuz Text:Barbara Behrendt, am 20. September 2023
Florentina Holzinger ist Tänzerin, Choreografin und Schöpferin aktionsreicher Spektakel. Seit Jahren prägt sie mit ihren Inszenierungen Tanz und Performance, wie zwei Einladungen zum Theatertreffen belegen.
An Florentina Holzinger scheiden sich die Geister: Die einen sehen in ihr die aufregendste junge Choreografin weit über den deutschsprachigen Raum hinaus – die anderen halten ihre Extremperformances für kalkuliertes Spektakel mit Krawallfeminismus und rollen genervt die Augen ob der Nähe zu den körperflüssigkeitsreichen Kunsthappenings der 1970er-Jahre. Recht haben sie beide.
Letzteres bestätigt die 37-jährige Wienerin mit eigenen Worten. Man müsse eben, sagte sie einmal in einem Interview, „auf einem Markt einen bestimmten Platz besetzen“, um weiter finanziert zu werden. Und das nackte Tanzen habe sie an der Uni auch deshalb mit anderen begonnen, damit sie technische Mängel und Komplexe überspielen könne. In der Tat: Ausschließlich nackte Frauen auf der Bühne – das findet das Publikum irgendwie immer aufregend. Es ist also einkalkuliert, dass die Medien Holzingers größte Knaller wie pawlowsche Hunde herausbellen: „Frauen, die auf Helikoptern reiten“ titelte DIE DEUTSCHE BÜHNE über das Wasserspektakel „Ophelia’s Got Talent“. Anderswo ist von „Lust am Exzess“ oder von „Tanz, Entertainment und Porno“ die Rede. Die New York Times berichtet schon seit einigen Jahren über Holzingers „splashy, messy all-naked revues“, die „everybody uncomfortable“ mache. Und: Eigentlich sind diese Überschriften noch recht brav. Denn wenn sich Frauen Fischhaken durch die Wangen ziehen oder sich gewaltige Fleischerhaken durch die Schulterblätter bohren und sich daran meterhoch in die Luft heben lassen, wenn einer Performerin in Echtzeit ein Schlüssel aus der Vagina operiert wird, während sie von einer erlebten Vergewaltigung erzählt, ist das eben erst einmal: krass.
Trotzdem, betont die Choreografin in Interviews stets, sei es ihr nie um Provokation gegangen. Das Label „radikal“ wurde Holzinger schon 2011 übergestülpt, als sie mit Vincent Riebeek, ihrem Kommilitonen an der Amsterdamer School for New Dance Development, die erste gemeinsame Arbeit „Kein Applaus für Scheiße“ zeigte. Wobei die „Scheiße“ im Titel wörtlich zu verstehen ist. Auch orchestriertes Pinkeln auf der Bühne definiert Holzinger als Kunst der technischen Körperbeherrschung.
Mehr als Zirkus
Als das up and coming Choreografietalent zog sie dann durch die Häuser der freien Szene, bis sie 2020 in der Hochkultur (und der Bürgerlichkeit) ankommt: bescheinigt durch eine Einladung für ihre Arbeit „Tanz – Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ an den Berliner Sophiensælen zum Theatertreffen. Eine Choreografie, die sich einerseits mit dem Drill des Spitzentanzes auseinandersetzt (und ihm den erwähnten Fleischerhaken in den Schulterblättern entgegensetzt), die andererseits aber ironisch- brachial Frauenklischees karikiert, indem die Luftgeister, die Sylphiden, nicht wie ätherische Wesen zart die Flügel schwingen, sondern als Horrorhexen auf fliegenden, röhrenden Motorrädern ihre Kreise ziehen.
Mit Dantes „A Divine Comedy“ steigt Holzinger 2021 dann in die Finsternis, die Hölle hinab, ins nächste Element: Feuer. Auch das ein Spektakel mit nackten Frauen in kampfkunstgeschulten Posen, mit fliegenden Fahrzeugen und: einer auf die Bühne ejakulierenden Performerin. Längst eilt Holzinger da schon ihr Ruf voraus und zieht immer mehr junges, hippes, internationales Publikum an, vor allem an der Berliner Volksbühne, wohin die Performance nach der Uraufführung bei der Ruhrtriennale weiterzieht.
Choreografin, 20.07.2023, Wien, im Prater
Dass in Florentina Holzingers Inszenierungen allerdings mehr steckt als Zirkus, Stunts, Schockeffekt und Oberflächenreize, zeigt sie spätestens bei ihrer Wasserbeschwörung (das dritte Element!) „Ophelia’s Got Talent“, mit der sie 2022 die Spielzeit an der Volksbühne eröffnete und dem Haus unter René Pollesch einen ersten eigenen Hit bescherte. Und der Choreografin die zweite Einladung zum Berliner Theatertreffen
Schräg-komisches XXL-Format
Holzinger selbst nennt es einen „Abend über das Wasser und die vielen literarischen Vorlagen“, bei denen „die Frau am schönsten ist, wenn sie tot im Wasser liegt“. Opfererzählungen von weiblichen Wasserwesen also: Leda und der Schwan, Undine, die Sirenen. Doch auch Stoffe wie Schillers „Taucher“ und Schuberts „Forelle“ werden zitiert, es schwimmt alles über die Bühne, was im tradierten (männlichen) Kanon mit Wasser spielt. Und dann sind da noch die Piraten: Ein weiblicher Captain Hook, mit schiefen Zähnen, untenrum nackt, kapert mit seiner Crew in einer schmissigen Irish-Folk-Stepptanz-Einlage das männliche Haudegen-Genre.
Weil Holzinger das (kostspielige!) XXL-Format liebt, ist in die Bühne ein gigantischer Swimmingpool eingelassen. Aus den Wassertonnen werden die Performerinnen wie zappelnde Fische herausgeangelt und in die Luft gezogen – eine wunderschöne Akrobatennummer. Dahinter schwimmen im ebenfalls monströsen Aquarium bezaubernde Meerjungfrauen mit Fischschwänzen. Ein traumhafter Wahnsinn, ein Rausch der mal poetischen, mal kitschigen Bilder.
Doch auch dieses Frauenmärchen zerfällt zu Staub, wenn der viel zitierte Helikopter von der Decke schwebt. Aus dem Pool steigen Frauen an Seilen auf und masturbieren so lange auf der mit Männlichkeit konnotierten Powermaschine, bis ihr Ejakulat vom Himmel tropft. Keine Schockszene ist das, sondern eine schräg-komische, wie so oft bei Holzinger.
Konventionen aufbrechen
Zentral ist dann aber weniger der Helikopter als der Striptease, den die kleinwüchsige Performerin Saioa Alvarez Ruiz an der Rampe hinlegt – und zwar im Blaumann, also als Klischee eines männlichen Strippers. Wann hat man je zuvor einen so erotischen, selbstbewussten Umgang mit einem nicht der Norm entsprechenden Körper erlebt? Diese Art der Selbstermächtigung ist es, die Konventionen im Kopf aufbricht.
Es ist ihren Performances anzusehen: Florentina Holzinger hat eine ungewöhnliche Körperschule durchlaufen. Sie ist Boxerin; ihr Körper ist nicht grazil, sondern athletisch und muskulös. Erst mit 16 hat sie mit dem Tanzen angefangen – zufällig, in einer Gruppe für „kreativen Tanz“. Die klassischen Techniken eignete sie sich dann in einer Ballettschule an. Fürs Profiballett war sie allerdings zu spät dran, ihre Statur zudem nicht zart genug. Also landete sie eher zufällig in der Amsterdamer School for New Dance Development, die keine Tänzer:innen ausbildet, sondern Choreograf:innen. Umso besser für die Tochter einer Pharmazeutin und eines Rechtsanwalts, die sich Autoritäten schwer unterordnen kann, wie sie zugibt.
Choreografin, 20.07.2023, Wien, im Prater
Ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Biografie ist die Aufführung mit ihrem Kollegen Vincent Riebeek 2013 in einer norwegischen Fischhalle: Aus rund fünf Metern Höhe knallt sie auf die Bühne und kommt glücklicherweise mit einer Gehirnerschütterung und einer gebrochenen Nase davon. Drei Monate später vollführt sie denselben Stunt in derselben Show erneut – ihre Form der Traumabewältigung. Seit diesem lebensgefährlichen Sturz ist die Sicherheit der Performer: innen für sie oberstes Gebot.
Spektakelhaft und vielschichtig
Daran fühlt man sich beruhigt erinnert, wenn man nun an einem warmen Sommerabend am Strand in Berlin-Friedrichshagen sitzt. Hier beschließt Holzinger die Spielzeit so poetisch und bildstark, wie sie sie im Herbst an der Volksbühne mit „Ophelia“ eröffnet hat. Ein Schwimmkran zieht einen Stahlkranz mindestens zehn Meter aus dem Müggelsee in die Höhe, daran hängen nackte Frauen an Gurten schlaff wie Wasserleichen oder tote Fische. Sie richten sich synchron auf, formieren verschiedene Schwebefiguren, später gleichen sie einer Gruppe, die sich beim Fallschirmsprung an den Händen hält. Hinter ihnen, mitten im See, steigen zwei Wassergöttinnen empor. So erhaben wie kraftvoll, so märchen- wie mackerhaft. Es sind Frauen auf Flyboards, die vom Wasserdruck in den Board-Schläuchen auf sprudelnden Fontänen in den Himmel steigen. Später werden sie wie Delfine durch den See springen.
„Kranetude“ heißt diese wundersame kurze halbe Stunde treffend von den Berliner Sophiensælen produziert und von Schlägen der vier (nackten) Schlagzeugerinnen am Wassersaum im Takt gehalten. Das Spiel mit Nixen- und Nymphen-Mythen, gepaart mit Lust am Risiko und Powerstunts auf PS-starken Gefährten – auch das ist so spektakelhaft wie vielschichtig. Mensch, Natur, Maschine finden hier für einen kurzen, poetischen Höhepunkt zusammen. Florentina Holzinger scheidet eben nicht nur die Geister, sondern vereint sie mitunter auch.
Florentina Holzinger, geboren 1986 in Wien, studierte Choreografie an der School for New Dance Development der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten. Seit 2011 zeigt sie freischaffend ihre eigenen Stücke (anfangs in Zusammenarbeit mit Vincent Riebeek), die Choreografie und Performance mit Stunts, Akrobatik, Trash und Kampfsport verbinden. Einladungen zum Berliner Theatertreffen 2020 und 2023. Seit 2021 regelmäßige Arbeiten an der Berliner Volksbühne.
Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 09/2023.