sechs Darstellende in Lichtrechtecken am Boden, die sich überschneiden

Neue „Schöne Aussicht“ am Jungen Ensemble Stuttgart

Grete Pagan und Frederic Lilje haben die Leitung von Schöne Aussicht übernommen. Das Theaterfestival für junges Publikum verhandelt unter dem Motto „HOW DO YOU HANDLE UNCERTAINTY?” dringliche Fragen unserer rasant sich verändernden Welt.

Bis 2022 leiteten Brigitte Dethier und Christian Schönfelder das alle zwei Jahre stattfindende, internationale Festival für junges Publikum Schöne Aussicht am Jungen Ensemble Stuttgart. Für die vierzehnte Ausgabe haben nun Grete Pagan und ihr Stellvertreter Frederic Lilje die Verantwortung übernommen. Als wichtige Neuerung haben sie das Auswahlverfahren verändert, indem sie es einem inhaltlichen Motto unterstellten: „How do you handle uncertainty?“

Zu dieser Fragestellung waren dann um die 200 Bewerbungen aus allen Kontinenten per Video eingegangen. Aus einem Pool von 40 Produktionen wurde die Auswahl von zehn Inszenierungen getroffen. Wichtige Auswahlkriterien für das Leitungsteam waren: Was finden wir spannend? Was berührt uns? Was ist schön? Was ist neu? In welchem Verhältnis steht die Produktion zum Motto und schließlich: Für wen ist die Aufführung gedacht?

Zwei weitere wichtige Punkte waren, dass die eingeladenen Produktionen einerseits für ein Stuttgarter Publikum interessant sein, andererseits inspirierend auf die Szene wirken soll. Denn zur Konzeption von Schöne Aussicht gehört das Arbeitstreffen der Mitgliedsbühnen des Arbeitskreises Baden-Württembergischer Kinder- und Jugendtheater. Hier finden nicht nur Workshops statt, sondern auch eine Auswahl von Aufführungen aus dem „Länd“ – die Bühnen, treten alternierend bei Schöne Aussicht oder auf dem Baden-Württembergischen Theatertreffen auf – werden zur Diskussion gestellt. Bei Schöne Aussicht war dieses Mal die regionale Schiene nicht kuratiert. Das selbstgewählte Arbeitsthema des AK Baden-Württemberg für die diesjährige Schöne Aussicht wurde allerdings in der Mehrzahl verfehlt: Es sollten interdisziplinäre Konzepte vorgestellt werden.

Emotionen und popkulturelle Dramaturgien

Beeindruckend ist die Auswahl von Grete Pagan und Frederic Lilje für die internationale Schiene. Es überzeugt, wieviel Vielfalt in der Fragestellung „Wie gehst Du mit Unsicherheit(en) um?“ verborgen liegt. Denn es geht nicht nur um die politische Situation in einer Welt mit Krieg, Flüchtlingsbewegungen, Hunger und Klimakatastrophe(n), sondern auch um Ungewissheiten im privaten Bereich, die junge Menschen derzeit besonders treffen. In „Familie Grr“ von hetpalais & De Nue Tijd aus Belgien streiten sich die Eltern im Off, während die Tochter (von Gina Beuk bedrängend intensiv vorgeführt) vorne allein vor sich hin spielt.

Szene aus „Familie Grrr“. Foto: Illias Teirlinck

Symbolisch geht ein Riss über das Bühnenpodest, der sich im Verlaufe der Aufführung immer mehr verbreitert. Während Vater und Mutter, grotesk ausstaffiert mit breiten Schulterpolstern, im Streit nur mit sich selbst beschäftigt sind, erschafft sich das Mädchen eine eigene monsterhafte Welt. Diese wird von der Sehnsucht nach Harmonie geprägt, ausgedrückt in ein durch Strumpfmasken verfremdetes Ballett oder am Ende, wenn der Riss zu einem breiten Gang geworden ist, im Auftauchen eines Monsters. Suze Milius setzt diesen Text von Rebekka de Wit und Suzanne Grotenhuis mit starken Bildern um.

Was schon bei „Familie Grr“ auffällt, ist, wie sich in der Auswahl der Inszenierungen emotionale Fragen mit unterhaltsamen popkulturellen Dramaturgien verbinden. Dabei scheint die Abwesenheit von Erwachsenen als immer größeres Problem, das auch in „Grote Mensen“, einer weiteren belgischen Koproduktion von compagnie barbarie und BRONKS, diskutiert wird: Was machen eigentlich die Erwachsenen, wenn die Kinder im Kindergarten oder in der Schule sind? Der Untertitel „Eine absurd tragische Horrorkomödie über die Welt der großen Menschen, wenn die Kinder nicht gucken“ verrät, wie furios zur Sache gegangen wird.

 

„Grote Mensen” von der compagnie barbarie / BRONKS. Foto: Franky Verdick

Ernsthaftes und Dokumentarisches

Abwesenheit wird am deutlichsten dort, wenn das Thema „Tod“ verhandelt wird. In „Unter Drachen“ von Broni und Röhrich steht die Geschichte vom Tod des Großvaters im Zentrum. Im intimen Ambiente eines Zeltes führt Nadja Rui behutsam in die Rituale des Abschieds vor. Ganz anders packt die Schweizer Choreografin Tabea Martin das Thema Tod in ihrem Tanztheaterstück „Forever“ an. In einem Bühnenbild mit weißem Tanzboden, herabhängenden weißen Ballons, einer Sirene sowie einem Kanister, auf dem „Blut” steht, und links einem, auf dem „Tränen“ steht, treten vier Tänzer und eine Tänzerin in langen weißen Plastikröcken auf. Sie sagen, dass sie für immer bleiben wollen. Die Assoziation, dass hier Flüchtlinge angekommen sind, greift daneben: Wie sich in der Handlung zeigt, versucht jeder der Tänzer:innen eine eigene Todesart zu finden, ein Unternehmen, das grandios scheitert. In immer neuen Anläufen fließt Blut, am Ende geben sie sich geschlagen und akzeptieren, dass sie „Forever“ weiterleben werden. Tabea Martin choreografiert das mit Sinn für Humor.

Wenn für ein jüngeres Kinderpublikum eher Konzepte gezeigt werden, in denen der Ernst (und auch die Tragik) von Verlusterfahrungen mit Slapstick und paradox-grotesken Übertreibungen im Spiel aufgefangen wird, herrschen für Jugendliche – zumindest auf diesem Festival – eher dokumentarische Formate vor. Kinderstimmen aus aller Welt zu ihrer Lebenssituation einzusammeln, zum Hören zu bringen oder als Laufband auf der Hinterwand der Bühne zu projizieren und dazu jugendliche Darsteller die Aussagen körperlich durchdringen zu lassen, macht die belgisch-kanadische Koproduktion von BRONKS und Le Carrousel „Choeur battant/Beating Choir“ in der Choreografie von Zoë Demoustier zu einem nachdenklichen Stimmungsweltbild. Auch die in den Niederlanden lebende Iranerin Nastaran Razawi Khorasani sammelte Kinderbriefe und Kinderstimmen im Iran, die ein erschreckend deutliches Spiegelbild der politischen Situation im Iran wiedergeben – und körperliche Spuren bei der auf der Bühne agierenden Frau hinterlassen.

Eine Crime-Story aus Großbritannien

In „The Enlightened“ von Liam Rees & Team aus Großbritannien verbindet sich eine Crime-Story mit Digitalität. Ein junger Engländer ist in Indien verschwunden. Zwei „Operators“ kommunizieren per Internet mit den beiden Menschen, die den Mann zuletzt gesehen haben. Die Bühne gleicht einem Computerstudio, über Bildschirme ist man mit Indien verbunden, gleichzeitig darf man auf eine Whats-up-Plattform chatten. Aber es gibt keine Auswertungen des Chats, bis auf Schlagworte wie Rassismus und Kolonialismus gibt es keine wirkliche Aufklärung in diesem Kriminalfall, selbst scheinbare weiße Überlegenheit wird nicht in der Kommunikation mit den indischen Gesprächspartnern aufgelöst, die Aufführung hinterlässt den Teilnehmer ratlos.

„The Enlightened”. Foto: Shirlaine Forrest

„The Enlightened”. Foto: Shirlaine Forrest

Das Konzept von Grete Pagan und Frederic Lilje ist aufgegangen: Ihre Auswahl überzeugt mit inhaltlichen Konzepten. Das europäische Theater für ein junges Publikum ist wieder politisch geworden. Es zeigt die Probleme der jungen Generation, ihre Ängste vor Krieg und Klimakatastrophen, die ernst genommen und doch zugleich in schöne Bilder überführt werden, die vom Mut erzählen, sich dieser Welt zu stellen. In diesem Sinne wäre auch der Szene für ein junges Publikum zu wünschen, dass sie das alte deutsche Wort „Achtsamkeit“ ernst nimmt: nicht als Ausdruck subjektiver persönlicher Betroffenheit, sondern als objektiver Ausdruck des gegenseitigen Respekts.