Man sieht die Fassade des Schauspiel Hannover in der Dämmerung

Grundversorger oder Feinkostladen?

Die Kooperation zwischen dem Staatstheater Hannover und NITE, dem „National Interdisciplinary Theatre Ensemble“ im niederländischen Groningen, ist erfolgreich gestartet. Dabei werden die strukturellen Unterschiede beider Theatersysteme deutlich.

Die Kisten waren Anfang Juli gepackt, die Spielzeit am Staatsschauspiel in Hannover endete gerade. Und Friederike Schubert, Dramaturgin aus dem Team von Sonja Anders, machte sich auf den Weg: zu neuen Ufern. So wird ein Berufswechsel nicht nur am Theater gern beschrieben – aber die junge Frau aus Dresden begibt sich nun tatsächlich in eine andere Theaterwelt, und sie übernimmt Verantwortung in einem Theatersystem, das sich vom heimischen Kultur- und Theaterbetrieb grundsätzlich unterscheidet. Friederike Schubert wechselt von Hannover nach Groningen. In den Niederlanden folgt das Theater ganz anderen Gesetzen als hier.

Nach ersten Theatererfahrungen daheim in Dresden, Regiestudium in Hamburg und Assistenzen in Bremen erwarb die Dramaturgin den Masterabschluss in Maastricht. In Hannover hat sie die erste Gastarbeit des aus Israel stammenden Regisseurs Guy Weizman und dessen choreografischer Partnerin Roni Haver dramaturgisch begleitet. Weizman und Haver leiten mittlerweile das Produktionshaus, das ehedem Noord Nederlands Toneel hieß (also „Nord-Niederländisches Schauspiel“), sich mittlerweile aber NITE nennt: National Interdisciplinary Theatre Ensemble.

Zu sehen ist Guy Weizman, auf dessen blauen T-Shirt ein Kamel ist.

Der Regisseur Guy Weizman. Foto: Martijn Halie

Theater in Groningen und den Niederlanden

Auf dessen Webseite finden sich überwiegend Tänzerinnen und Tänzer und nur je zwei Schauspielerinnen und Schauspieler; Tanz und Musik sind genauso wichtig wie dramatisches Theater. Rik van den Bos gehört als Autor zur Truppe, Mohamedou Ould Slahi als Writer in Residence; beide schrieben mit im Kollektiv, das im Frühjahr „Yaras Hochzeit“ erarbeitete, ein Stück nach Motiven von „Orientalismus“, dem schon 1978 erschienenen visionären Nahost-Buch von Edward Said. Dessen Gedanken werden im Stück über mehrere Zeitebenen gehievt: im Blick zehn Jahre zurück, als gerade erinnert wurde an den noch mal zehn Jahre zurückliegenden „Nine-Eleven“-Anschlag, und von dort aus wieder zehn Jahre vorwärts, in die Gegenwart anhaltender multikultureller Missverständnisse. Die Hochzeit von Yara könnte endlich die Versöhnung stiften, auf die alle hoffen.

Hoffnung? Zuversicht? Ja, sagt Weizman – und gegen jeden Naivitätsvorwurf zitiert er John Lennon: „You may say I’m a dreamer.“ Zu träumen wagen sei doch das Einzige, was helfe: gegen den allgegenwärtigen Zynismus. Die Aufführung der beiden Theater wurde zu einem Jubelfest.

Zu sehen ist das Stadsschouwburg in Groningen, in den Niederlanden

Die Stadsschouwburg in Groningen. Foto: Niels Knelis

Weizmans Maß an Unbeirrbarkeit muss sich im Nachbarland allerdings unter schärferem Druck behaupten, als es hierzulande der Fall wäre. Nach der legendären „Aktie Tomaat“ anno 1969, als Schauspielstudierende immer wieder angegammeltes Gemüse auf die Akteurinnen und Akteure der verwitterten Stadt-und Staatstheater im Lande warfen, wurde das System strukturell entkernt: Nur zwei Häuser in den Niederlanden haben noch feste Ensembles. Wie freie Gruppen in Deutschland finanzieren niederländische Gruppen die Produktionen selber, durch Fundraising oder mithilfe von Stiftungen, und verkaufen sie an regionale oder lokale Kuratoren.

Spot etwa heißt die Firma, die Kultur jeder Art einkauft für die Bühnen in der 200000-Menschen-Stadt Groningen. Auch die Stadsschouwburg, deren Teil das Noord Nederlands Toneel einst war, wird von Spot mit Programm versorgt. NITE verkauft an Spot und entsprechende andere Agenturen, hat zwar ein eigenes Produktions- und Probenhaus, mit sparsamer technischer Ausstattung, aber im Grunde keine eigene Bühne. „Wir verkaufen, und unsere Marke muss so wiedererkennbar sein, dass die Kunden immer wieder bei uns kaufen“, sagt Friederike Schubert über ihr neues Theater. Und alles muss laufen: „Wir haben keinen Raum für Fehler!“

„In Hannover“, sagt Schubert, „sind wir Grundversorger in einem großen Flächenland; das ist kein Feinkostladen. Den haben wir zwar auch – auf den kleinen Bühnen. Aber im Großen Haus sind wir Lidl oder Edeka.“ An ihrem neuen Arbeitsplatz hingegen wird kein Repertoire produziert, nur fünf oder sechs Stücke pro Jahr; Tanz, Schauspiel, Show. Die Produktionen unterliegen auch keinem technisch-betrieblichen Schichtsystem. Das ermöglicht familiäres, erfordert aber auch extrem diszipliniertes Arbeiten. Alle Produktionen reisen: Zehn Vorstellungen in Groningen sind die Regel, drei weitere Dutzend ringsherum in den Niederlanden. Das Land ist strukturiert wie eine einzige Landesbühnenregion oder wie ein Land voller INTHEGA-Häuser … Wie hat sich diese Struktur zum Alltag des koproduzierenden Staatstheaters in Hannover gefügt?

Gegenseitiges Kennenlernen

Gegenseitigen Kennenlernen stand am Beginn – und obendrein die Pandemie. NITE-Chef Weizman war eingeladen, sich auf die Spuren des antiken „Bakchen“- Stoffes zu begeben; auf dem hannoverschen Spielplan stand „Bitch! I’m a Goddess“, die Euripides-Überschreibung von Anne Carson. An die Realisierung aber war vorerst nicht zu denken. Weizman drehte zunächst in Groningen einen Theaterfilm. Und in Hannover entstand ein szenisches „Bakchen“-Fragment, das zwar schon ansatzweise mit dem Stoff umging, aber tatsächlich nur im Videostream zu sehen war. In der komplett und vor Publikum gezeigten Bühnenversion des Stückes um die Göttin Dionysos, verkörpert von Anja Herden, einer der herausragenden Protagonistinnen in Hannover, war deutlich die Handschrift des Weizman-Teams zu spüren: die Lust am rituellen Spiel, für die der Regisseur und die choreografische Partnerin Roni Haver stehen, die kraftvollen Zeichen in den Bühnen von Ascon De Nijs, die spektakulären Kostüme des Duos Maison the Faux. „Bitch! I’m a Goddess“ war ein Ereignis.

Man sieht die Schauspielerin Anja Herden

Die Schauspielerin Anja Herden. Foto: Kerstin Schomburg

Die Kooperation und ihre Zukunft

Doch erst „Yaras Hochzeit“ wurde zur wirklichen Kooperation. Auf beiden Seiten der Grenze und in mehreren Sprachen entwarf ein sechs Köpfe starker Writers’ Room die schmerzhaft-multikulturelle Fabel, die Bühne wurde in Hannover entworfen, passgerecht nicht nur für Groningen, sondern flexibel auch für die anderen Spielorte in den Niederlanden; wie überhaupt die Ausführung technischer Arbeiten den stärker ausgestatteten Werkstätten in Hannover vorbehalten blieb. Drei hannoversche Ensemblemitglieder, darunter wieder Anja Herden, wurden in den Groninger Probenprozess integriert. Schauspielerinnen und Schauspieler, Tänzerinnen und Tänzer aus dem holländischen Team bilden den Kern des Ensembles. Potenziale aus beiden Häusern wurden miteinander kombiniert, ohne dass die beiden Häuser die jeweils eigenen Arbeitsstrukturen infrage gestellt hätten. Ob sich die Abläufe in Hannover oder die in Groningen nach dieser gemeinsamen Anstrengung verändern könnten oder sollen, bleibt in beiden Städten offen. Aber die Bindung wird konstant und kompakt bleiben – dafür steht nun Friederike Schubert.

Zu sehen ist die Dramaturgin Friederike Schubert auf einem Stuhl hockend und in die Kamera lächelnd

Die Dramaturgin Friederike Schubert. Foto: Martijn Halie

„Yaras Hochzeit“ ist vor allem und auch durch die durchweg populäre Musik ein wildes Fest, lustvoll und entspannt trotz aller Fokussierung auf die immer wieder und trotz allen guten Willens ungelösten Fragen im Zusammenleben der Kulturen; vor allem der arabischen mit der mitteleuropäischen. Immer wird klar, auch und gerade an Spielorten in der niederländischen Provinz, dass sich die Produktion immer noch auf tendenziell vermintem Gelände bewegt; auch Holland hat rechte, fremdenfeindliche Bewegungen. Und natürlich erleichtert die weniger fest im staatlichen Kulturbetrieb verankerte Struktur in Groningen jeden politisch motivierten Angriff auf die letzten öffentlichen Kulturgelder. Das war vor wenigen Jahren der Fall. Guy Weizman weiß darum sehr gut, dass die Theatertruppen immer die Ersten sein werden, deren Arbeit als überflüssiger Luxus definiert wird.

Da kann Anja Herden, die jetzt mit „Yaras Hochzeit“ kreuz und quer durchs Nieder-Land unterwegs gewesen ist, gar nicht genug staunen über die unermüdliche Energie in Groningen: „Sie sind so viel härter dran als wir hier – aber vielleicht ist darum die Entscheidung für diese Art von Arbeit dort so wichtig!“ Durchdrungen sei alles von „Liebe, Vertrauen und Loyalität: Wie fremd du auch bist, du kriegst immer ein ‚Ja‘“ – willkommen ist jeder und jede.

Kunst entstehe ja nicht aus Unter-, sondern fast immer aus Überforderung, und in der wachse auch ein anderer Typ von Schauspielerin und Schauspieler. Wer Bien De Moor aus dem NITE-Ensemble zuschaut, versteht sofort, was Herden meint. Groningen sei ein Fundamental-Erlebnis: „So sexy, open-minded und großzügig ohne Ende!“

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 10/2023.