Sandra Hüller steht vor einem flammenden Hintergrund

Differenzierte Weitspringerin

Die Schauspielerin Sandra Hüller spielt derzeit am Schauspielhaus Bochum die kämpferische Frau Penthesilea und die verzweifelte Männerfigur Hamlet. Doch Geschlechterfragen dominieren ihre Arbeit nicht, ihr geht es um Grundsätzlicheres.

Sandra Hüllers Hamlet ist ruhig. Ruhig und verzweifelt. Ihr erster, sein erster Auftritt, ist ein Stehenbleiben: Das zehnköpfige Ensemble tritt ganz zu Beginn gemeinsam auf, stellt sich wie beim Applaus nebeneinander frontal zum Publikum auf, dann geht eine nach dem anderen auf seinen oder ihren „Platz“; in der ersten Reihe des Parketts. Hier sitzen auch später alle Darstellerinnen und Darsteller, die nicht auf der weiten weißen Bühne (von Johannes Schütz) agieren. Sandra Hüller bleibt also in der ersten Szene alleine zurück, eine Zurückgebliebene dieser frontalen Familienaufstellung, in einer Haltung, die in den folgenden knapp drei Stunden die Grundposition dieses Hamlet ist: aufrecht stehend, die Hände einfach an der Seite herunterhängend, den Blick nach vorn gerichtet, dabei etwas nach unten geneigt. Ob da ein Mann steht oder eine Frau, ist zunächst nicht ganz klar, denn Sandra Hüllers Gestalt wirkt hier mit schwarzem Pullover, einer etwas altmodischen grauen Hose, dunklen, nicht unbedingt eleganten Schuhen, einer dünnen goldenen Kette und mit ihren recht kurzen Haaren weder ausgesprochen männlich noch weiblich.

Hamlet ist seit dem 18. Jahrhundert eine Paraderolle für große Schauspielerinnen. Sarah Bernhardt oder Asta Nielsen spielten die Figur, vor 20 Jahren Angela Winkler. Sandra Hüller hat „Hamlet“ vorher nie gesehen. „Das ist meine erste Begegnung mit dem Stück, und darüber bin ich sehr froh. Denn da schiebt sich nichts ineinander, und ich muss gegen nichts ankämpfen“, sagt sie, als wir uns eine Woche nach meinem Besuch von Johan Simons’ Inszenierung treffen. Am Abend wird sie wieder die Titelfigur in Shakespeares Drama spielen: „Was mich in der Vorbereitung am meisten beeindruckt hat, ist Angela Winklers Beschreibung, dass sie nicht einen Jungen oder ein Mädchen spielen will, sondern ein Kind von Eltern. Und darum geht es. Hamlet hat diesen großen Wunsch nach Wahrheit und Aufrichtigkeit, und das wohnt vielleicht jedem Menschen inne.“ 

Genau das zeigt Sandra Hüller in ihrem klaren Spiel; überspitzt wird ihre Figurenanlage deutlich, wenn sie unter dem Druck der Ereignisse und Spannungen zu Königin Gertrud rennt und babygleich „Mama, Mama“ greint. Im Verhältnis zur Mutter sieht Hüller die deutlichsten Unterschiede zur Hamlet-Darstellung durch einen Mann: „Ich glaube, dass das Verhältnis zur Mutter von einem Mann anders gespielt wird. Der Moment der Brutalität ihr gegenüber würde bei einem Mann mehr Aufmerksamkeit erregen als die Sehnsucht nach ihr.“ Hamlets Ausspruch „Schwachheit, dein Name ist Weib“ kann in Hüllers nachdenklichem Aussprechen auch als Ermahnung an sich selbst verstanden werden, nicht nachzulassen in ihrem Nachbohren in den Wunden der Familie. 

Hamlet-Sein

Als Kind des ermordeten Vaters würgt dieser sonst so ruhige und besonnene Hamlet in krampfartigen Anfällen die – in anderen Inszenierungen von einem eigenen Darsteller gesprochenen – Ermahnungen des Vaters heraus. Damit braucht es in der Inszenierung keinen Geist des toten Vaters, er wohnt hier in Hamlet selbst. Auch engagiert der Prinz in dieser konzentrierten Inszenierung keine Schauspielertruppe, vielmehr reflektiert er in der „Schauspielerszene“ sich selbst, sein Spiel als Hamlet auf dieser Bühne, das auch von den gerade nicht spielenden Akteuren beziehungsweise Familienmitgliedern vom Parkett aus beobachtet wird. Das Hamlet-Sein ist hier also durch und durch eine schauspielerische Erfahrung. Den Friedhof, den diese Bühne ohne Verwandlung kurz vor dem letalen Ende darstellt, besucht Hamlet neugierig, als mitdenkender Zuschauer. 

Foto: Annette Hauschild / Agentur Ostkreuz

Das leidende, auch starke, klarsichtige Kind wird von Sandra Hüller konsequent, dabei keineswegs eindimensional gespielt. Sie macht deutlich, dass dieser Hamlet keine eigentliche „Männerrolle“ ist. Auch nicht unbedingt die einer Frau. Keineswegs verkleinert sie die Figur zu einem unreifen Menschen. Dieser Hamlet ist vor allem Nachkomme einer komplexen Familie, alleingelassen von den Eltern und Älteren, aber auch von Freund Laertes und der geliebten Ophelia. „Es geht ja nur darum, dass er möchte, dass jemand mal sagt, was hier eigentlich passiert ist, dass es zugegeben wird. Und dass es nicht Sachen gibt, die über Generationen weitergetragen werden. Und dass man diesen Mut von den Erwachsenen auch erwartet, dass sie sich trauen, sich und ihm ins Gesicht zu sehen“, so die Darstellerin. 

Sandra Hüller spielt – und das ist bezeichnend für ihr Spiel generell – ganz grundsätzlich einen Menschen. Auch in „Penthesilea“, in der auf Sandra Hüller und Jens Harzer zugeschnittenen Textfassung von Johan Simons und Vasco Boenisch, geht es um ganz Existenzielles, viel mehr als um Erotik – „ein komisches Wort, das ich gar nicht benutze“ – oder um Sexualität: „Ich finde es schwierig, so etwas wie Intimität oder Sexualität zu spielen, wenn man laut sein muss, weil man ein Theater füllen muss.“ Auf einer mythologischen Folie verhandelt das Stück den (für den Mann) tödlichen Liebeskampf der Amazone Penthe-silea und des Helden Achill. Die politischen Umstände sind angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen beider Heere ex-trem schwierig; bis zu einem gewissen Grade lassen sich die beiden davon nicht begrenzen und scheitern doch am Ende: „Da wir das große Ganze der Geschichte abgebildet haben – und dann auch noch aus einer Art von Jenseits –, sind sie in einer Schleife, wo sie herauszufinden versuchen, was eigentlich schiefgelaufen ist, weil sie füreinander gemacht zu sein scheinen.“ 

Spannungsreiche Kontrolle

„Schauspiel funktioniert nicht über ein Gefühl“, sagt Sandra Hüller. „Am Anfang dachte ich, man müsse nur erst ein Gefühl herstellen. Auch durch die Begegnung mit Johan Simons habe ich gelernt, dass es zunächst der Gedanke ist, alles andere folgt dem nach.“ In beiden großen Bochumer Rollen fällt auf, dass sie auf der Bühne auf sehr schlichte Art und Weise extrem präsent ist: zugewandt, konzentriert, unverkrampft und zunächst mit neutral wirkender Miene. Sie verwandelt sich nicht in einen anderen Menschen, sondern ist einfach da. 

Aus dieser fast neutralen Haltung heraus verwandelt sie sich urplötzlich – „wie der Blitz“ heißt es über Penthesilea – in unterschiedliche Zustände der Figur. Damit zeigt sie in den „Pausen“ viel von der Darstellerin Sandra Hüller, aber zugleich auch von der Figur Penthesilea beziehungsweise Hamlet, die immer wieder auf sich zurückgeworfen sind. In den kurzen Verwandlungen der Szenen spielt sie dann eine enorme Bandbreite an Emotionen und Zuständen aus: zarte oder harte Töne, Ruhe oder Unruhe. Großes handwerkliches Können einerseits und Selbstvertrauen, als Gegenteil von Selbstzufriedenheit, treffen da zu großer Schauspielkunst zusammen. 

Sandra Hüller mit weißer Jacke

Foto: Annette Hauschild / Agentur Ostkreuz

Die ruhige, spannungsreiche Kontrolle Sandra Hüllers über Körper und Geist erinnert an eine Spitzensportlerin. Wie eine Weitspringerin steht sie, bis sie Anlauf nimmt und sich im Sprung verwandelt. Immer wieder, immer neu. Dabei sei sie als Kind nicht besonders sportlich gewesen: „Das hat später angefangen, als ich gemerkt habe, mein Körper macht nicht mehr, was ich will. Da musste ich anfangen, ihn zu trainieren. Es geht doch nicht, dass ich beispielsweise die Phantasie einer Figur habe, die immer hüpft – und ich kann das dann nicht. Ich muss doch hinkriegen, dass mein Körper macht, was ich will.“ Intellekt und Körper kommen im Spiel Sandra Hüllers intensiv zusammen: „Ich habe ja auch eine Zeit lang nicht umsonst probiert zu tanzen, weil ich wissen wollte, wie es ohne Sprache geht. Das finde ich immer noch bereichernd.“

Männerrollenspezialistin

Als Männerrolle spielte sie vor Hamlet den Rektor Sonnenstich in „Frühlings Erwachen“, im Schultheater: „Tatsächlich war das meine allererste Rolle.“ Als Männerrollenspezialistin sieht sie sich dennoch nicht: „Bei ‚Penthesilea‘ habe ich eine ganz andere Verantwortung, ein Exemplar meiner Gattung zu verteidigen. Anders als bei ‚Hamlet‘, weil ich kein Mann bin und auch nicht weiß, wie es sich anfühlt, ich nicht weiß, wo da die Verletzungen liegen. Ich kann das zwar erfragen, aber erfahren und spüren kann ich es nicht.“ Und Verallgemeinerungen sind ihrer Meinung nach „doch genau das, was wir nicht wollen“. Für Schauspieler und Regisseure gehe es ja „immer darum, alles, was in einem Menschen wohnt, zu akzeptieren und sichtbar zu machen. Und das hat mit verschwindenden Rollenbildern zu tun“. Auch in der Darstellung von Männern: „Ich finde es immer interessanter, man spricht miteinander und findet heraus, wer der andere wirklich ist. Das ist gefährlich, weil es sein kann, dass alles, was man dachte, falsch war.“

Sie selbst wurde als Frau im Theater- und Filmbetrieb nie schlecht behandelt: „Klar weiß ich, dass es das gibt, aber persönlich ist es mir nicht begegnet. Es gibt aber eine gewisse Erwartungshaltung an Kolleginnen, dass sie emotionaler sind. Gerade bei jüngeren Kolleginnen gibt es manchmal die Idee, dass sie bis zum Ende strahlen und positiv sein sollen, obwohl sie gebrochene Figuren spielen.“

Anders bei der jungen Sandra Hüller: Im Jahr 2003 spielte sie am Theater Basel in Goethes „Faust“ die Margarete: „Ich habe damals immer Wert darauf gelegt, dass sie Margarete heißt und nicht Gretchen. Denn das stimmt nicht. Sie ist Alleinernährerin der Familie, sie managt den ganzen Laden, und dann kommt ein Typ und sagt: ‚Hey du, Baby, mitkommen.‘ Der Ausgangspunkt für die Rolle war: Die will gar nicht abgeholt werden, sie hat andere Sorgen.“ Diese Margarete muss eine große Figur gewesen sein – und deshalb in ihrem Untergang womöglich umso rührender. „Die Margarete würde ich genau so wieder spielen; das habe ich mir damals schon gut überlegt.“

Sandra Hüllers Resümee zu Männerrollen und Geschlechterfragen auf der Bühne ist klar und durchdacht wie ihr Spiel: „Im besten Fall denkt man beim Spielen nicht darüber nach, ob Mann oder Frau. Es geht um einen Konflikt; und je weniger geschlechtsspezifisch, umso besser. Umso mehr hat es mit allen Menschen zu tun.“ 

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 2/2020.